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camino Reiseblog

Kehrseiten

 

Dies ist ein Blogeintrag für all jene,  die nicht neidisch gemacht werden wollen:

Der Nebel hängt schwer in der Luft. Es riecht nach Stahl und Schwefel, braune Wolken durchdringen die vereinzelt an Wäscheleinen hängenden Kleidungsstücke. Es rattert und brummt,  ein konstanter Geräuschpegel,  ein einsamer,  trauriger Hahn krächzt auf einem mit Maschendrahtzaun umzäunten Rostgrün, Rohre und Fabriklaufbahnen über der Straße, Schornsteine und halb verlassene, halb bewohnte (nicht belebte) Bruchbuden am Wegrand. Apokalypse Land. Bis zehn Kilometer hinter Gijon hängt die rostbraune Kohle- und Stahlindustrie in der Luft.  nur wenige Kilometer Waldweg und schon geht es wieder auf die Landstraße, stundenlang an den wenig moderneren Industrieanlagen vor Avilez entlang,  der Fluss ist blau-grau, die Luft rau, am oberen Ende eines Schornsteins werden Restgifte in stechender Flamme verbrannt,  LKWs brausen an mir vorbei.  Die Strecke von Gijon nach Avilez (beide davon abgesehen mit erstaunlich hübschen Innenstädten) ist postapokalyptisch, lang und ungemütlich.  Nachdem die deutschen Flieger in den 30ern Franco geholfen hatten,  den halben Norden wegzubomben,  kamen in den 70ern und 80ern die deutschen Industriellen, um die Fabriken (die sie dank ergrünender Politik in Deutschland nicht mehr bauen konnten) aus dem Boden zu stampfen und das Land unter einen grauen Schleier zu legen. Heute kommen die deutschen Pilger und laufen an den Schnellstraßen entlang von einer Herberge zur nächsten und beschweren sich dann, wenn sie Bettwanzen in einer der günstigen Herbergen bekommen. So wie ich zum Beispiel. Oder Volver, der zwar schon seinen ganzen Rucksack eingesprayt hat, heute morgen aber wieder mit neuen Stichen aufwacht. “Vielleicht sollten wir heute draußen schlafen”, sagt seine Freundin Constanze, letzten Endes landen wir im verschlafenen Hafendorf San Esteban. Als Pessimist sähe man dort vor allem alte Hafenmaschinen, als Optimist Industriemonumente. Und ein “Salzwasser-Schwimmbad”, das sich als Poolbecken mit Meerwasser un einer Wiese drumherum herausstellt, für das man dann Eintritt zahlen kann. (Oder man geht daneben an den strömungsumrissenen Steinstrand.)
Ja, der Camino ist bei Weitem nicht immer eine Anreihung von ruhigen Waldwegen und abgelegenen Stränden. Lange Landstraßen zerren an der Achillessehne, Asphalt drückt auf die Blasen, in ungewaschenen Herbergs-Bettbezügen lauern Bettwanzen und an den Berghängen entzünden sich Kniescheiben. Die erhoffte Wasserquelle nach Kilometern ist versiegt, die Pension voll und den meisten Wanderern der Rucksack zu schwer. Und dann läuft man eben auch mal einen Tag lang durchs Postapokalypse-Industriegebiet.

Aber dann kommt auch nach San Esteban ein mehrstündiger Weg über Waldwege und entlang verlassener Strände, wo das Morgenlicht sich in Streifen über den Wäldern bricht und der Sand im Wasser golden glitzert. Man läuft zwei Tage zusammen mit Volver und Constanze, die einem dank ähnlichem Tempo seit Güemez schon mehrmals zufällig über den Weg liefen, absichtlich schlecht Spanisch sprechen (“Damit die nicht denken ich verstünde was sie mir dann mega schnell antworten”), Insider, Erinnerungen und Mittagessen mit einem teilen. Und endet einen Tag in einer Hängematte nur wenige Meter vom Strand entfernt – das wird zwar im Morgengrauen wieder kalt. Aber dafür gibts hier auch keine Bettwanzen. Und kein Industriegebiet.

ZUSAMMENFASSUNG: Apokalypse-Land hinter Gijon, Industrie-Romantik ohne Romantik aber dafür ganz viel Smog und Rost, Bettwanzen und lange Landstraßen – aber auch gute Wandertage mit Volver und Constanze, einsame Paradiesstrände und humorgetränkte Waldwege.

Eine Antwort auf „Kehrseiten“

Oh nein, wie realistisch öde, grau und schmutzig kann solch ein Pilgerweg auch sein. Hoffentlich kriegst du wenigstens bald wieder die Bettwanzen weg und das Jucken hört auf.
Wie gut, dass die schöneren Wege immer wieder auch kommen und die Wanderer erfreuen. Alles Gute.

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