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Herbst

 

An dem Tag, als ich “O Bisonte” verließ, warfen die Bäume ihre Blätter von den Ästen. Wer weiß, wie viel Tage tatsächlich vergangen waren, für die Wälder und das Land um mich her müssen es Wochen gewesen sein: Plötzlich war es Herbst. Wenn ich morgens, geweckt von unverbesserlichen Frühaufstehern, die Herberge beim ersten Morgenlicht verlasse, hängt der kalte Nebel zwischen meinen Fingern, und bis die Sonne für die ersten angenehmen Temperaturen gesorgt hat ist der zweite Weg-Kaffee getrunken. Zusammen mit Canto und den beiden ewig Gutgelaunten* (die 15 Kilometer nach dem Bisonte auftauchten und seither für schwarzen Humor und umgetextete Lieder von Canto sorgen) erklimme ich den höchsten Punkt des Camino del Norte (eine unspektakuläre Landstraße auf 700 Metern) und unterschreite die 100-Kilometer-Marke auf dem Weg nach Santiago (ein unspektakulärer Wegstein dem man die goldene Plakette stahl), während um mich das Land zur herbstbraunen Hochebene wird. Der Name der Malerin vom Bisonte öffnet mir die Türe zum Atelier des Bildhauers Ché, der uns bei einem eingeladenen Wein von falschgeschriebenen Guidebooks erzählt, und sichert uns eine Unterkunft und geschenkten Schnaps in der familiären “A Lagoa”. Zu wenig Zeit für zu viel Garten. In der Gruppe der Gutgelaunten läuft es sich schneller, nach 33 Kilometern ist trotzdem abend. Aufstehen, Kaffee, weiterlaufen, verwundert die Pilger beäugen, die ihr Gepäck im Taxi transportieren lassen um die 100 nötigen Kilometer für die Compostela abzulaufen. Manchmal spüre ich das Gewicht meines Rucksacks gar nicht mehr, manchmal laufe ich wie in Trance, keine Gedanken, einfach den Pfeilen hinterher. Wir halten an und pflücken Brombeeren fürs Abendessen, Canto pfeift einen Schlager, er mag keine Schlager, “aber Udo Jürgens ist doch fast schon ein Chansonier”. In einem riesigen Kloster, in dessen Kathedrale sich der Hall eines gepfiffenen Liedes an den moosbewachsenen Wänden spiegelt, machen wir Pfannkuchen mit Schafskäse und Brombeeren, die sich außerdem hervorragend mit Guajada und Dulce de Leche zum Nachtisch mischen lassen, und genießen die Ruhe. Vielleicht zum letzten Mal. Denn der nächste Stopp ist Arzua, jene Stadt, in der der Camino del Norte für die letzten 40 Kilometer mit dem sieben-Mal so häufig bewanderten Camino Frances zusammenstößt. Es ist Herbst, ich ziehe meinen Fließpulli an und lasse Canto und die Gutgelaunten ein wenig voranziehen. Die letzten Schritte auf dem Kies der Nordroute verdienen ein paar Atemzüge Einsamkeit.

*die selbsttitulierte Lachhure und die stets angepisst Schauende, die aber eigentlich ganz gut drauf ist

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