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Naive Metapoesien der Einsamkeit Texte

Prag

Dieser Text ist erschienen in: Von den zwei Arten des Vergessens.

Wenn ich hinter meinem Kleiderschrank ein Labyrinth bauen könnte
Dann führte es nach Prag.

Ich verschwände jeden Tag
Einen schmalen Gang entlang
Im traumhaften Grauen
Fände Raum hinter Raum
Immer tiefer hinunter in die Katakomben
Eine Kellerwand ist eine Kellerwand
Ob Prag oder Wedding
Zeichnete Wege, die ich dadurch schneller fand
Mit Marker und Edding.

Könnt dank kryptischer Zeichen
Die Krypta erreichen
Denn alle Wege führten dahin:
Zum letzten aller Räume, begraben unter’m Hradin
In der Luft und in dem Kopf schwebt absynthener Dunst
Die Wände verziert voller sündiger Kunst
Es gäbe keine Antworten – doch auch keine Fragen
Nichts mehr zu verantworten
Auch nicht mehr zu wagen.

Die vollgepackten Rucksäcke ließ ich im Schrank daheim
Die schmalen Gänge bloß gemacht für einen Mensch allein
Die Türen, die ich schloß, verschwänden stumm hinter’m Gestein
Im grauweißen Schein schimmert versteintes Gebein
Nein.
Es wäre nicht schön.

Ein Rattenkönig als Kronleuchter
Kanalisations-Kannibalen
Todsünde Trägheit: Die Absolution der Annalen
Das Abwasser der Welt; es fließt schon im Banalen
Die Abwesenheit des Lichts ist nicht Böse, sondern Nichts
Doch deinen Fährmann auf die and’re Seite müsstest du bezahlen
Und das willst du eben doch noch nicht verdienen.

Und so führte mich mein Labyrinth den Abfluss entlang
Durch die begraben und vergessenen Alt-Moldaustadtruinen
Es wäre nicht das Prag der geselligen Cafés
Die Stadt der tausend Lichter zum Gesang der Chansonniers:
Das Labyrinth unter dem Kleiderschrank, das endet unter Kafkas Gassen.

Dort, wo nicht die Massen staunender Passanten wanken
Sondern jenseits noch der Zechen, die auch Tschechen selber hassen
Weil sie unerklärlich enden und Legenden sich um ihre Klinkerlenden ranken
Und die Unbestimmtheiten uns’rer Zeiten nur wuchern
Wie die Pflanzen um die Köpfe der Schönheiten von Mucha
Wo man nichts wirklich verstanden, und noch weniger je überwunden hat
Dort, wo Objektivität den Sinn verliert, weil man sie selbst erfunden hat –
Es wäre kein leichter Ort.

Und jedes Mal, wenn ich ihn beträte, würd ich zweifeln
Und im Geiste schon die Wände einreißen
Jener Räume, die da lauern. Hinter meinem Kleiderschrank
Mit ihren verschlossenen Türen der Einsamkeit
Und den feuchtkalten Mauern – und die Tage bedauern
An denen ich sie leider fand.

Ja, ich hasste jene dunklen Gänge, die ich selbst erschüfe
Trüge Flüche auf der Zunge wie ein flüchtender Junge
Und doch
Ließ ich sie stehen.

Denn trotz aller Stolpferfallen und der Wege zum verirr’n
Gäben sie mir einen Blick auf deine Stadt hinter der Stirn
Ich könnte endlich wissen, welche Monster du besiegst
Wenn du morgens deinen Kopf erhoben kriegst.
Wüsste, wie allein du sein kannst, wenn du durch die Gänge fliehst
Weil du die Tür gleich neben dir hinter den Mauern nicht mehr siehst.

Wenn ich hinter meinem Kleiderschrank dein Labyrinth bauen könnte
Ging ich jede Nacht hinein in meiner mutigsten Manier
Bewaffnet nur mit Kompass / Bleistift und Papier
Um die Karten zu zeichnen
Die noch grade so reichen
Als Minimalorientierung

Denn wahrscheinlich kennst du die Gänge und Gassen eh viel besser als ich
Es ist ja deine Stadt.
Zwar hast du sie selbst nicht gemacht
Doch als ein‘ Göttin uns einst Prag erschuf,
da hat sie an dich gedacht.

Wenn ich dein Labyrinth mir hinter meinem Kleiderschrank erbaute
Wär es bestenfalls ein maßstabgetreues Modell
Eine hoffnungsbeladene, niemals verzagende
verständnise-lehrende, nie ganz verheerende Kopie
Ich brauche sie
Um dein Prag zu sehen
Um letztlich jenen Tag zu verstehen, an dem du aus meinem Kleiderschrank stolperst.

Damit ich dich dann in den Arm nehmen kann
Und dir warm sagen kann:
Du bist nicht alleine.
Und wenn du das nächste Mal in Prag bist:
Hier ist die Karte.
Von dort, zu meinem Kleiderschrank.