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Reiseblog

Die Einsamkeit und Philadelphia

Einsamkeit ist ein seltsames Gefühl. Manchmal gesucht, manchmal gemieden, manchmal geradezu heilsam, ein anderes Mal in den Wahnsinn treibend. In Philadelphia hat man das nach einst guten Absichten erst zu spät festgestellt. Also, zumindest für viele betroffene Individuen zu spät. Das Eastern State Penitinterary wirkt von außen wie eine gotische Burg, massiv und bedrohlich, und aus heutiger Perspektive trifft das (wenn auch auf andere Weise) umso mehr auf das Innere zu…

Um wahre Reue bei den Sträflingen hervorzurufen, baute man einen Komplex voller Einzelzellen. Jeder Häftling hatte seinen eigenen winzigen Innenhof, seine Zelle mit Tisch und Bett und Stuhl. Die Wächter trugen schalldämpfende Socken, wenn sie über die Gänge liefen um das Essen durch kleine Klappen hindurchzuschieben. Keine Briefe, keine Bücher (außer der Bibel). Überhaupt brauchte es nicht viele Wächter: Der Komplex ist ein Panoptikum, mit einem zentralen Mittelpunkt, von dem aus ein Wächter alle Gänge überwachen kann. Die Gefangenen lebten bis zu zwei Jahre lang in absoluter Stille und Einsamkeit. Das Gefängnis wurde 1970 geschlossen – zu dem Zeitpunkt war das Gesellschaftsexperiment längst gescheitert. Immer mehr Menschen wurden verhaftet (bei gleichbleibender Anzahl gewalttätiger Straftaten) und man zog zusätzliche Korridore, zweite und dritte Etagen ein. Irgendwann belegte man schließlich auch die Zellen wieder doppelt, und der Wahnsinn nahm ein wenig ab. Heute also, heute zieht man seine stillen Schritte durch das halbverfallene Gebäude, an dem die Farbe von den Wänden blättert und das Mobiliar in sich zusammenfällt. Ein bisschen leer fühlt es sich an, und wie stets, wenn es um die Rechte von Mördern und Verbrechern geht, weiß man nicht, wie viel Mitleid man eigentlich haben kann und sollte.

Davon abgesehen ist Philadelphia keine einsame Stadt. Abends fahren mit bunten Lampions behängte Rikschas (ein Kunstprojekt von Guo-Quiang) die Avenues entlang, und Café-Angestellte unterhalten sich mit dir, als sie dich zufällig nach ihrem Feierabend an einer Straßenkreuzung wiedertreffen. Ein Rikschafahrer macht seine Ausbildung zum Medical Assiteant, “Job kriegen ist da trotzdem schwer, aber besser als ohne”, sagt er in breitem Dialekt, “Aber das hier ist super, so lange ich hier arbeite, mache ich keinen Unsinnn. Ich will ein gutes Vorbild für meine Tochter sein.” Er erzählt nicht, was er sonst für Unsinn machen würde.

Im Südosten, wo die Wolkenkratzer verschwinden und der alte Stadtkern der Gründungsväter sich in Backsteinhaussträßchen erstreckt, hebt sich nur die South Street vom Rest ab. Vor allem, weil jede dritte Hauswand das Mosaik von einem lokalen Künstler namens Zadar trägt. Zadar siedelte sich mit ein paar anderen Künstlern in der South Street an, als sie so heruntergekommen war, das man von Abreißen und Immobiliengeschäften sprach. Heute ist es der hippste Teil der Stadt, und aus Zadars einstigem Atelier ist der “Magical Garden” geworden. Glasflaschen, Porzellan, Spiegel, Fahrradreifen – alles verwächst zu einem verschlungenen Kunstwerk. In der hinteren Gallerie wachsen Bilder eines anderen Künstlers aus ihren Rahmen hinaus ins Nachbarbild. Es ist Vernissage, der Maler steht neben mir und erzählt, wie er Pferdehufe am liebsten malt und wirkt leicht und gesellig. Er passt nicht zu seinen Bildern. Aber wer tut das schon wirklich.

Den Abend verbringe ich mit verschiedensten Europäern und Latinos im Hostel, seltsam, US-Amerikaner scheinen nicht in philadelphische Hostels zu kommen, obwohl sie sonst um die Liberty Bell und die anderen Attraktionen ihrer Gründungsgeschichte nur so herumströmen. Jeder einzelne der Hostelbesucher reist alleine, alle schlafen in Dormbetten. Es brauchte trotzdem eine Kiste Freibier um sie alle zusammen zum Reden zu bringen. Manchmal neigen wir dazu, uns unsere Isolationszellen selbst zu bauen.
Am nächsten Tag verlasse ich das für eine Großstadt recht gemütliche Philadelphia, um in den Pinelands noch ein wenig in die Natur zu kommen. Der Nationalark im Süden von New Jersey besteht nahezu ausschließlich aus Flüssen und Pinienwäldern, vereinzelten Straßen und weitläufigen Campingplätzen. Mit einem vom Drehbuchautor geborgten Miniaturzelt schlage ich mein Lager auf und versuche dann mit einer Karte des Natoinalparkgebiets, einen Wanderweg zu finden. Leider ist die Karte völlig verzerrt, und der vermeintlich idyllische Wanderweg führt die ersten 9 Kilometer in der Nähe meines Campingplatzes eine baumlose, schnurgerade Sandpiste entlang… Nach anderthalb Stunden gebe ich auf und hitchhike mit ein paar Hillbillies zurück, deren zweite Frage (nach woher ich komme) ist, wie das denn nun mit den Flüchtlingen in Deutschland so gehe. Sie hätten ja Schlimmes gehört. Aus ihrem Pick up kommt Countrymusik, ich erzähle, dass die Behörden inzwischen viel besser strukturiert sind und Flüchtlingslager besser funktionieren. Ich glaube nicht, dass es das ist, was sie hören wollten. Wir verabschieden uns, wie man sich von Leuten verabschiedet, die nett zu einem waren, aber diese Nettigkeit nicht universell anwenden würden und ich flüchte mich in meine selbstgewählte Einsamkeit, mit einem eiskalten Fluss, zu vielen Mücken, Grillenzirpen und Pinienwaldgeruch. Ich fahre stundenlang Kayak und genieße die Ruhe. Fast niemand begegnet mir. Es ist schön. Und still.
Am Ende des Tages freue ich mich auf die bekannten Gesichter, die mich in in Kürze in Long Branch erwarten.

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