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Mittelalter

 

Der Sonnenaufgang tunkt den von der Ebbe ausgetrockneten Meeresarm in orangenes Licht, das Kopfsteinpflaster ist noch Morgenkühl. Hinter mir, in den Gassen zwischen Kirche und Burg, bauen Käsereien und Holzschnitzer ihre Mittelalter-Marktstände auf, es riecht nach spanischer Salami und Heu. Die eigentliche, klischeehafte Mittelalterstadt ist wohl Santillana del Mar, wo ich vor zwei Tagen war; ein unberührtes, 15.-Jahrhundert-Ortszentrum, eindrucksvolle Häuser, eine entsprechende Kathedrale und der Luxus einer gleich im alten Zentrum gelegenen Pilgerherberge. Inzwischen ist Santillana jedoch ein von Touristen bevölkertes Open Air Museum, wo man sich zwar über gutes Essen freuen kann, aber ständig das Gefühl hat, duch eine Postkarte zu laufen. Interessanterweise ist sich die Stadt damit sehr treu geblieben, denn vermutlich ist sie vor mehreren hundert Jahren entstanden, weil sie eben auf dem Pilgerweg nach Santiago lag, und die Reisenden nach ganz Europa hier hindurchzogen, mit ihren eigenen Bedürfnissen, mit ihrer jeweiligen Kultur und dem Bedarf nach Betten und Essen. Ich revidierte meinen Plan, länger dort zu bleiben, und schaute mir stattdessen die Cuevas de Altamira an, die wohl ersten Höhlen, in denen die Feinheit und Detailgenauigkeit der Höhlenmalereien von vor 14.000 Jahren entdeckt wurde. Nachdem Mitte des letzten Jahrhunderts tausende von Touristen durch die Höhlen gingen, Graffitis über den alten Malereien hinterließen und das Überleben dieses alten Kunstwerks gefährdeten (und dann beschwert sich diese Generation über Graffitis unserer Zeit, die auf hässliche Autobahnbrücken gesprayt werden…), musste sie leider für die Öffentlichkeit gesperrt werden. Heute gibt es eine angeblich originalgetreue Kopie gleich nebenan, die man sich stattdessen anschauen kann. Aber irgendwie fehlt der Zauber, sobald man weiß, dass es nicht aus der Hand eines der ersten begabten Homo Sapiens stammt, sondern von einem sicher ebenfalls (wenn auch anders) begabten Rekonstrukteurs.
Aber zurück zum Anfang. Inzwischen bin ich in San Vincente de la Barquera angekommen, einer Stadt mit mittelalterlichem Kern, der trotz Mittelalter-Markt ein bisschen Magie behalten hat. Gelegen zwischen zwei rías (Meerarme, die sich weit ins Landesinnere ziehen und bei Ebbe wie ein halb ausgetrockneter Fluss erscheinen), erreicht man sie über die einst längste Brücke Spaniens. Ich treffe den in Österreich losgewanderten Pilger wieder, der sich ohne Spanischkenntnisse mit den Phrasen “si, claro” und “en serio?” problemlos durch eine Konversation mogeln kann, genieße einen morgendlichen Sonnenaufgang und starte dann zu einer kleinen Exkursion, die mich zwischenzeitlich vom Camino de Santiago wegführen wird… doch dazu später mehr!

ZUSAMMEFASSUNG: Touristenüberlaufendes Santillana del Mar, eine originalgetreue Kopie von 14000 Jahre alten, 50er-Jahre-Graffity belästigten Höhlenmalereien und der Zauber einer fast-mittelalterlichen Stadt zwischen surrealen Meeresarmen mit der einst längsten Brücke Spaniens.

Eine Antwort auf „Mittelalter“

Ja ja diese Graffiti Sprayer. Ich ärgere mich ja schon länger darüber. Mehr kommentiere ich hierzu nicht. Ich bin auf deinen nächsten Eintrag gespannt, wie es weiter geht mit deiner Reise. Lieben Gruß von Nanni

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