Auf der Plaza vor der Kathedrale strahlt die Sonne auf das Kopfsteinpflaster, einzelne Pilger und Touripilger-gruppen durchschreiten die Pforte. Jeder erreicht Santiago auf eine andere Weise. Dutzende, hunderte Menschen kreuzen den Blick, das allübliche “Buen Camino” wird durch ein “Bienvenidos” abgelöst. Da sind jene mit den kleinen Rucksäcken, die die letzten 100 Kilometer in Turnschuhen abliefen, das Gepäck im Taxi transportiert, “We are the Champions” singt eine Gruppe vor der Kathedrale. Da sind die Radfahrer, die einen zum ersten Mal nicht aus dem Weg klingeln, sie steigen kurz ab für ein Selfie. Und da sind jene trotzdem noch viele, die den Camino Frances, und wenige, die den Camino del Norte durchpilgerten, besonnen an die schattige Mauer gegenüber gelehnt, den Rücken an den kalten Stein, verloren in ihren Erinnerungen an die letzten Wochen und Monate. Als ich mit Canto und den Gutgelaunten die Plaza betreten, höre ich ein schrilles Aufrufen vom anderen Ende. Colín, die nach dem ersten gemeinsamen Abend im Bisonte weiterzog, kommt auf mich zugerannt, der kleine Rucksack-Berg, den sie mit sich rumtrug, liegt an der Wand. “Ich will gleich nach Finisterre weiter”, erzählt sie, gestern sei sie angekommen, sie ist das am längsten bekannte Gesicht was ich in Santiago treffen soll. Wir essen überteuerte Churros in einem Luxuscafé, in Santiago kennt man selbst hier den Geruch frisch-angekommener Pilger, auch wenn ich seit gestern das Gefühl hatte, inzwischen zu einer Minderheit zu zählen: In Arzua bogen wir auf den Highway der letzten 100 Kilometer Frances ein, “Schmalspurpilger”, lästert Canto, “Tourigrinos” (angelehnt an “Peregrino” = Pilger) betiteln Graffitis auf Wegsteinen sie. Mein leichtgepackter Rucksack zählt plötzlich zu den Schwergewichten, pfeifend laufen Canto und ich den einfachen Weg an sich voranschleppenden, geführten Reisegruppen vorbei, nichts gegen Wandertourismus, aber von Pilgern hat das nichts mehr. “Buen Camino!”, flöte ich, eine Gruppe japanischer Touristen macht ein Foto von uns, ein paar Leute hassen uns für unser Schritttempo. (Aber sicher nicht so sehr wie die laut klingelnd, rücksichtslos an einem vorbeizischenden Mountainbiker.) “Soll ja jeder seinen eigenen Camino laufen,” gesteht Canto ihnen zu, “aber wer ihn so läuft, hat sich nachher wahrscheinlich nicht verändert.” Nach 20 Kilometern steigen die “Partypilger” mit Boombox und Schnapsflasche in privaten Herbergen in Pedruzo ab, wir laufen weiter, der Weg ist plötzlich wieder leer. Nach 36 Kilometern kommen wir in Monte de Gozo an, wo wir die letzte Nacht vor Santiago mit den Gutgelaunten verbringen.
Und dann also Santiago. Für viele ist der Weg hier zu Ende, ich verabschiede mich von dem ein oder anderen bekannten Gesicht. Wir gehen in die Pilgermesse, der Weihrauch schwenkt neblig über unsere Köpfe, irgendwo unter uns liegt angeblich ein Apostel begraben. Eine Nonne singt, es ist der ansprechende Teil der Messe, der Priester redet über Katholizismus.*
Was bedeutet es, in Santiago angekommen zu sein? Die plötzliche Erleuchtung beim Anblick der Kathedrale? Die Befreiung der Sünden beim Durchschreiten eines Tors? Das langerkämpfte Ende einer Reise? Was macht das mit einem?
Die Erleuchtung war ja viel mehr in der Suche als im Ziel, würde Busqueda vielleicht sagen. “Erwarte nicht zu viel von Santiago, der Weg geht ja noch weiter”, meinte Esperanza. “Lass dich überraschen”, schreibt Sorpresa, und Canto singt den passenden Ohrwurm dazu, während die Gutgelaunten uns Wein auf der Terrasse der Ferienwohnung in der Rua do Franco einschenken. Die Souvenirverkäufer verkaufen Jakobsmuscheln und der Turm der Kathedrale verschwindet hinter einem Baugerüst. In einer engen Seitenstraße hinter der Plaza leuchtet ein kleiner gelber Pfeil auf dem Pflaster, immer Richtung Westen. Wo es weiter geht. Zum Ende der Welt.
* was der Priester hätte sagen können : wie der camino uns gelehrt hat, aufeinander Rücksicht zu nehmen, wo alle mehr geben als nehmen. Wie wir uns auf das Wesentliche konzentrieren konnten, uns vom materiellen verabschiedeten und den Wert freiwilliger Hilfe oder einer kleinen Geste erkennen. Wie fragil und schützenswert unsere Welt ist. Und wie schön es wäre, das alles, gelernt auf der Universidad de la Vida, in unser normales Leben mitzunehmen. Padre Don Ernesto hätte das vermutlich gesagt. Zum Glück gab es einen kleinen Pilgersegen, 20 Pilger in einer Seitenkapelle, nachdem die Massen die Hallen verlassen haben. Wir reden über all dies, übersetzen es uns in fünf Sprachen, vier polnische Pilger singen zum Schluss das Lied der Pilger. Ihre Stimmen verbreiten sich langsam unter der Kuppel wie zuvor der Weihrauch aus der Butafumeiro eine zweite Luftblase, die uns behutsam umfängt. Dass irgendwo unter uns ein Apostel begraben liegt, ist ihnen wichtig, aber irgendwie auch sehr unwichtig.
3 Antworten auf „Highway nach Santiago“
Ok. Nun hast du das also geschafft. Ich freue mich mit dir. Insbesondere weil du so vieles erlebt hast. Ich wünsche dir, dass der Weg und die Erfahrungen dich weitergebracht haben, in deinen Ansichten, deinem Leben, deinen Meinungen , deinem Denken vielleicht auch über den christlichen Glauben und die Haltung derer, die es leben. Eine gute letzte Woche noch. Nicht zu traurige Abschiede. Eine sehr gute Rückfahrt und Heimkehr und danke für die vielen guten Zeilen. ? Nanni
Ich verstehe die Haltung derer, die ihren christlichen Glauben leben, ja auch unabhängig davon ob ich ihn selbst glaube oder nicht. Was ich nicht verstehe, ist wenn die Tradition des Glaubens über die eigentlich dahinterstehenden Werte stellen.
Rückfahrt ist noch nicht, geht ja erst noch nach Finisterre 🙂
Lieber Jesko,die Pilgerreise war sicher eine sehr große Erfahrung in vielen Bereichen für dich. Hier zu Hause warten aber noch eben solche auf dich: Beruf, Freunde,dein Engagement für viele Projekte. Die große Großfamilie mit den vielen wunderbaren Kindern,und wir, die ältere Generation freuen uns auch auf das eine oder andere Wiedersehen und Treffen mit dir. Komm GUT nach Hause.Herzliche Umarmung- Mingel