“Da oben gibt es noch Schneestrüme!”, warnt der Münchner Yuppie, das Maß Bier in der einen und den Enzianschnaps in der anderen Hand. “Alles zugeist, und heute nachmittag hats gehagelt!”
Alma und ich sehen aus dem Fenster, wo tatsächlich gerade eine Regenwolke aufzieht Wir sitzen im Kärlingerhaus, einem großen Gasthof voller eng aneinanderliegender Matratzen, um so viele Wanderer wie möglich unterzubringen. Es ist eigentlich zu groß, um sich irgendwo zu verstecke, aber als wir heute nachmittag das Tal erreichten, an dessen Anfang ein Schild noch “10 Minuten” versprach, war nichts davon zu sehen gewesen. Kritisch hatten wir auf den verschlungenen Pfad geblickt, der auf der anderen Seite des Tals in den Bergen verschwand. Wie sich herausstellte, verbarg das Kärlinger sich nur auf beinah-mysteriöse Weise in der Seitenlage des Tals, und verdeckte selbst wiederum einen See. Wir waren gerade rechtzeitig angeommen, um dem ersten Regenfall zu entgehen, nachdem wir gute fünf Stunden lang erst auf den Halsköpfl, dann zum grünen und schließlich zum schwarzen See gelaufen waren. Ich war schwimmen, “Ist gar nicht kalt!”, hatte ich gerufen, “zumindest nicht so kalt wie ichs von nem Bergsee erwarten würde.” Als ich nach fünf Minuten Alma trotzdem nicht bewegen konnte, meinem Beispiel zu folgen, sprang ich mit eingefrorenen Gliedmaßen schnell wieder hinaus, füllte unsere Wasserflasche und machte mich mit ihm zusammen an den nächsten Aufstieg. Es war weit kürzer gewesen als unsere Eis- und Wolkentour am Vortag, aber eine leichte Wanderung sieht doch anders aus. Im Kärlinger sahen wir den Jungpastor und die Ergotherapeutin wieder, Camino-Flashback, Wanderern begegnet man immer ein zweites Mal. Wir hatten uns gerade auf die beinah schon bekannten Gesichter und entsprechende Gespräche eingestellt, da kamen die Münchner an unseren Tisch.
“Meine Ex-Frau hat mich ja mal fast umgebracht”, erzählte der Yuppie, der früher mal einen Bullie besessen hatte und dann mit Mannesmann das D2-Netz aufgebaut hatte bis er sich einen Porsche leisten konnte. ” Niemand hatte ihn danach gefragt, aber er war mit seiner Begleitung zusammen im Zimmer “Almrausch” untergebracht und verhielt sich entsprechend. “Die hat so Homöopathie gemacht und so. Irgendwann war dann die Kripo bei mir und sagte “sie sind nicht als Zeuge geladen, sondern als Opfer!”. Ich bin mir nicht sicher, ob er dazwischen noch Bestandteile erzählte, die der gesamten Geschichte mehr Sinn gegeben hätte, und nahm mir nur vor, die Finger von den Globuli des Todes zu lassen. “Da könnte man echt ein Buch drüber schreiben”, fand er, “willst du nicht mein Ghostwriter sein?”
Ich überschlug im Kopf, wie viel Schadensgeld er mir dafür zahlen müsste und lehnte dankend (aber ungehört) ab. Nun waren sie jedenfalls bei er Beschreibung der Ingolstädter Hütte angekommen, die sowohl sie, als auch Alma und ich für den nächsten Tag zum Ziel gehabt hatten. Die Ingolstädter Hütte ist eigentlich nicht weit vom Kärlinger. Zweieinhalb Stunden vielleicht, wenn man direkt geht und fit ist. Leider waren wir a) nicht mehr fit seit den letzten Tagen und b) nicht unbeingt in der Stimmung, weitere Eisfelder als Geh-Untergund auszuprobieren. Die Wettervorhersage tat ihr übriges. Der Münchner Yuppie vielleicht auch.
“Aber wenn wir stattdessen morgen schon runterlaufen nach Schönau, haben wir keine Unterkunft da”, wandte ich ein. Alma, dessen Füße zu seiner Entscheidungsfindung schon deutlich früher beigetragen hatten nickte nachdenlich. Das Problem war, hier zwischen den Bergen gab es auch nicht den Hauch von mobilen Internet, selbst normales Netz gab es nur, wenn die Wolken nicht zu dicht waren, an einem einzigen Punkt des Geländes. Immer wieder sah man Wanderer, die trotz Regen nach draußen gingen, sich einbeinig auf den Tisch stellten und ihr Handy nach links oben streckten in der Hoffnung auf einen Strich Empfang. So tat Alma es ihnen gleich, und schrieb seiner Verlobten, ob sie uns vielleicht eine Unterkunft für die nächste Nacht organisieren könne. Bis zum nächsten Mittag, an dem wir bereits auf dem hoffnungsvollen Abstieg Richtung Königssee befanden, kontrollierten wir regelmäßig sein Handy, bis wir endlich die begehrte Nachricht bekamen. Sie hatte tatsächlich im Touristenstädtchen zu Beginn der Hochsaison noch einen Tag vorher eine Unterkunft bekommen. “Alma, ich glaube du wirst eine Magierin heiraten”, sagte ich, und wäre er noch ein bisschen anfälliger für Kitsch gewesen, hätte er “ich weiß” gesagt.
Der Abstieg machte uns deutlich, wie viele Höhenmeter wir in den Vortagen erklommen hatten. Vier Stunden ging es ohne Pause bergab, eine Serpentine nach der nächsten, bis wir endlich das Türkisblau des Königssees durch die Baumwipfel schimmern sahen. “Seltsam, da sind wir so viele Tage drumherum gelaufen, und jetzt sehen wir ihn zum ersten Mal richtig”, stellte Alma fest. Wir kühlten unsere Füße im Wasser und genossen die Beruhigung, am Abend eine Unterkunft zu haben, bis ich auf die Idee kam, uns noch einen weiteren Anstieg hochzupeitschen. Zur Eiskapelle. Die natürlich deutlich weiter entfernt war als die prognostizierten 45 Minuten. “Vielleicht haben wir die Berchtesgadener Raum-Zeit-Disruption entdeckt”, meinte ich, und Alma stimmte mir ohne Vorbehalte zu. die Eiskapelle, eine nie schmelzende Eishöhle am Fuß des Watzmann, war noch so zugeist, dass man nicht hineinkonnte. Aber davorstehen konnte man, mit einem Blick, der auch in einem kanadischen Nationalpark stehen könnte. Naja, Bayern oder Kanada, so groß ist der Unterschied ja nicht.
Nach nur vier Tagen in der Wildheit der Berge kamen wir uns sehr deplaziert vor, als wir St. Bartholomä erreichten – eine mit Kirche versehene Halbinsel, die von den Königseer-Elektrobooten angefahren wird. Entsprechend wimmelte es von Touristen jeder Colour, im Biergarten, beim Fotos schießen, beim Herumwuseln. Wir standen dazwischen mit unseren Wanderstöcken und stinkenden Shirts und fühlten uns sehr, sehr anders. Natürlich würden wir uns schon am nächsten Tag wieder akklimatisieren, nach einer Nacht in richtigen Betten und einer warmen Dusche, mit Tagesspaziergängen und Seilbahn zum Obersalzberg-Dokumentationszentrum, mit Therme, mit bayrischer Hausmannskost und all dem, was Menschen im Urlaub so tun. Aber in diesen paar Stunden zwischen Bartholomä und dem Ankunftssteig in Schönau-Königsee, da waren wir ein bisschen aus der Welt gefallen, Alma und ich. Als spielte jemand im Zeitraffer die Menschen um uns her ab, in deren Mitte wir stehen, die Ruhe der Berge noch in den schmerzenden Waden. Wir begruben unsere Wanderstöcke im See und sahen den Bergen nach, die von einem Boot so lein wie die ausgestreckte Hand sind. “Nächstes Mal laufen wir den östlichen Teil lang, jenseits der Ingolstädter”, sagte ich fragend. Alma antwortete nicht, weil er seinen leicht geschwollenen Fuß massierte. Aber er sagte auch nicht nein.