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camino Reiseblog

Wer wir sind und wo wir leben

“Kein Albanier mag Albanien”, sagt der Schüchterne, “Wenn ich könnte, wäre ich in Schweden.”
“Unsere Identität ist noch aus der Antike,” sagt der mazedonische Poet, “wenn andere da Probleme mit unserem Namen haben, ist das doch deren Problem.”
Gespräche hier gehen leicht in solche Richtungen. Wer wir sind und wo wir leben. Was ist kulturelle Identität? Und wie lange man als Gastarbeiter in Deutschland war.
Hier, das sind die letzten fünf Tage in Mazedonien und Albanien, und sie sind voll solcher Gespräche. Weil der Taxifahrer über seine Tochter spricht, die nach Dubai gezogen ist, um als studierte Ökonomin mehr als 250 Euro zu verdienen. Weil der in Deutschland wohnende Fußballtrainer im Bus mein Deutsch gehört hat und mich fragt, was einen Berliner in die albanische “Wildnis” verschlägt. Weil der Poet am Gartenzaun steht und den einsamen Wanderer auf einen Raki einlädt. Die letzten Tage waren voller spontaner Begegnungen und umgeworfener Entscheidungen. In a nutshell:
– Von Griechenland nach Mazedonien fahren keine direkten Busse über die 25 Kilometer zwischen Florina und Bitola – wegen eines Namens. Ich nehme ein Taxi zur Grenze, laufe zu Fuß rüber, lasse mir vom Grenzbeamten ein Taxi nach Bitola rufen. Per Anhalter hätte man es hier schwer: nimmt man “aus Versehen” einen Flüchtling ohne Papiere mit, drohen einem als Schleuser jahrelange Haftstrafen.

– Eigentlich wollte ich in Bitola nur umsteigen – stattdessen bleibe ich eine Nacht und treffe den Radfahrer aus Meteora wieder, der bis nach Spanien radeln will

– Das türkische Erbe ist überall, auf Bazaaren und in Moscheen. Die Schrift ist kyrillisch, klingt wie Russisch, das sowjetjugoslawische Erbe klebt unter dem abfallenden Putz schlecht renovierter Häuser. Jedes zweite Geschäft setzt “Europa” oder “Euro” in seinen Namen. Es scheint arbiträr, warum gerade das Reich Alexander des Großen so identitäts- und namensgebend sein soll

– In Ohrid kreuzen nur drei Touristen (immer wieder) meinen Weg – in der Nebensaison sind die Gassen zwischen den zahllosen orthodoxen Kirchen und an der Uferpromenade leergefegt. Zu Jugoslavischen Zeiten war Ohrid das zweitwichtigste Urlaubsziel des Ostblocks, und wenn man am See steht, versteht man das.

– Als ich ein Boot zur pittoresken Sant Naum-Kirche nehme, dort, wo die kristallklaren Quellen aus dem Berg sprudeln, entscheide ich mich, zu Fuß und per Anhalter zum Ort zurückzukehren. Dadurch komme ich zufällig zum “Museum auf dem See” – “Du musst dahin”, sagen die Jungs, die mich mitgenommen haben und überzeugen den Mann an der Kasse – einen alten Schulfreund – dass er diesen Anhalter mal umsonst reinlassen solle. In der Knochenbucht hat man vor einiger Zeit die Überreste eines prä-römischen Volks gefunden, das ihre Dörfer auf Stelzen im See baute: weil darin so viele Fische sind, dass man durch eine Falltür in seiner Hütte einfach nur einen Korb hinablassen musste, um ihn mit nahrhaftem Fisch zu füllen. “Jeder Mann muss drei neue Pfähle errichten, für jede Frau, die er heiratet”, beschrieb ein Römer die Traditionen. Sie bauten wenig später ihr Fort auf dem Hügel nebenan. Noch mehr Auswahl im mazedonischen Identitätenportfolio.

– Eine Quer-durch-den-Wald-Abzweigung führt mich nach Elshani, wo man Fremde offenbar noch so selten sieht, dass Kinder mich überrascht Grüßen und ein Mann mich über den Gartenzaun zum Raki einlädt. Er sei auch Poet, offenbart er nach meiner Antwort, was ich so mache. Sein zuletzt veröffentlichtes Buch sei Verboten. Nein, es ist nicht verboten vom Staat, so heiße es: “Verboten”. Aus dem Raki werden zwei, und ein ganzer Abend mit langen Gesprächen über Religion, Identität und das Schreiben, er simultanübersetzt seiner Frau, “sie war meine erste und beste Kritikerin, so haben wir uns kennengelernt”, erzählt er, als wir zum Ziegenmelken gehen. Wir essen Bohneneintopf, draußen wir es dunkel, ich werde den Bus zurück nach Ohrid nehmen. Auf dem Berg wandern war ich jetzt nicht mehr, doch das stört mich nicht im Geringsten.

– Im albanischen Tirana wollte ich eigentlich nur ein paar Stunden verbringen, umsteigen zwischen einer Verbindung. Ich bleibe zwei Nächte. Die Stadt hat einen angenehmen Flair, und man kann für 10 Euro in einem feinen Restaurant mit albanischer Livemusik essen, wo die mittelalten Herrschaften einer Geburtstagsfeier tanzen, als gäbe es keine Grenzen zwischen Türkei und Europa.

– Nachdem ich eine kommunistische Pyramide bestiegen und zwei von über 1600 albanischen Bunkern (man war paranoid nach dem Bruch mit Mokau) besucht habe, nehme ich die Seilbahn ins nahe Naturschutzgebiet, um ein bisschen zu wandern. Zufällig begegne ich dabei einer ebenso zufällig zusammengewürfelten Gruppe aus zwei Praktikanten der schwedischen Botschaft, einem schüchternen Albaner und einem in Griechenland wohnenden bulgarisch-albainschen Pärchen. “Du solltest nach Kotor in Montenegro gehen, statt direkt nach Dubrovnik”, sagt der schwedische Botschaftspraktikant, der eigentlich in Norwegen wohnt, und dessen beste Entscheidung es war, aus Schweden wegzuziehen (eine Aussage, die der schüchterne Albaner nicht verstehen kann). Der Bus nach Dubrovnik fährt um 8 Uhr Abends, über Nacht, eigentlich. Am Busbahnhof werde ich nicht nur feststellen, dass er nächste Bus nach Kotor am kommenden Mogen führe, sondern auch, dass der nach Dubrovnik eine halbe Stunde früher wegfuhr. “Manchmal entscheidet der Zufall für einen”, werde ich der zufällig zusammengewürfelten Gruppe am Abend in einer Bar sagen und mich freuen, einen langen Abend mit ihnen zu verbringen. Ich verpasse: nur einen Bus. Ich gewinne: spannende Gespräche über Identität, die größten Fehler unserer Leben und gemütliche Kneipen, und schlafe in einem Botschafterpraktikantengästebett.

Bei all den Zufällen und spontanen Entscheidungen wird es mir jedoch trotzdem einach gemacht; An der Grenze selbst außerhalb der EU genügt mein deutscher Ausweis für ein freundliches Durchwinken, und jeder zweite Mensch spricht ein paar Worte Deutsch, oder war mal dort. Trinkgeld gibt sich leicht, wenn das Essen nur 4 Euro kostet, und wenn ein Bus nicht fährt, kann ich immer einen anderen nehmen; oder ein Taxi. Jeder bewundert alles, was Deutschland macht, und verurteilt sein eigenes Land aufs Schärfste, wegen Korruption, oder Ungebildetheit. Dass unser Aufstieg und ihr Fall zusammenhängen, ist kein Teil der Erzählung. Mazedonien und Albanien waren so viel in so wenigen (zu wenigen) Tagen – aber vor allem ein Lehrstück in der Frage, was unsere kulturelle Ientität ist. Was wir als das definieren, was uns ausmacht. Was wir sind. Denn so richtig beantworten, kann das eigentlich keiner.
Ich lasse meine letzten albanischen Leke bei einem Bettler zurück, für mich nur Wechselgeld, für ihn zwei bis drei Mahlzeiten, und nehme den Bus nach Kotor in Montenegro – einem Land, das den Euro nutzt, obwohl es nicht in der EU ist und eigentlich gar nicht dürfte. Es war trotzdem besser, als die eigene, brüchige Währung aufecht zu erhalten. Macht sie das jetzt europäischer, weil der Kontinent auf der Münze prangt, oder weniger europäisch, weil sie ihn so nötig haben, dass sie ihn auch einseitig verwenden? Was ist überhaupt Europa? Was macht uns eigentlich aus?

Eine Antwort auf „Wer wir sind und wo wir leben“

Erfahrungen sammeln zu dürfen und zu können; weil wir in Freiheit leben dürfen und Bildung genießen können, samt dem nötigen Kleingeld, um uns auf solcherlei Reisen zu begeben. Weiter gute Erlebnisse und Erfahrungs- austausch mit Land und Leuten.

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