Europa zieht an meinem Fenster vorbei, in schweigenden Laubwäldern und Heuballen-bestückten Wiesen, in Kirchturmspitzen-durchsähten Dörfern unter blau-weißen Himmeln. Während ich mit Hochgeschwindigkeit über sich durchs Land schlängelnde Schienen rase und Grenzen überquere, die man nur noch auf Karten sieht, spricht man hinter mir arabisch, vor mir französisch, gegenüber deutsch.
Bahn fahren durch Europa ist immer eine hübsche Art zu reisen. Ja, ich bin sehr lange unterwegs, um überhaupt zu meinem Startpunkt zu kommen. Sicherlich wäre ich im Flugzeug schneller und vermutlich zu einem ähnlichen Preis ans Ziel gekommen.
Doch zugleich: Wenn ich auf einer Reise, die ich großteils zu Fuß meistern will, die Langsamkeit entdecken will – ist da der TGV nicht schon an der Obergrenze der Geschwindigkeit? Beim Ziel, die Ferne zu spüren, die ich zurücklege, die Weite dieses Winzlings Europas, der aus dem Bahnfenster sich auf lange Strecken doch erstaunlich gleicht; auf dem Weg nach Irun.
Und nicht zuletzt konnte ich mir auf diese Weise einen Zwischenstopp in Paris gönnen. Den Dienstagabend verbrachte ich zwar großteils damit, die (richtige) Jugendherberge zu finden, doch heute blieb mir dafür bis zum Nachmittag Zeit, durch Montmartre zu schlendern. Die klassischen Sehenswürdigkeiten kannte ich schon von vorigen Besuchen und lief so an Sacre Coeur und Moulin Rouge recht zufällig vorbei – wie es überhaupt meine Lieblings-Stadterkundung ist. Ebenso zufällig stolperte ich so auch auf ein mir bisher unbekanntes Prachtstück: Den Friedhof des Montmartres. Menschenleer zur Morgenstunde versteckte er sich dort unter einer Autobrücke, die Kreuze der Grabmalkathedrälchen vergangener Jahrhunderte kratzten an der Unterseite des grünen Metalls. Der Geruch moderner Pflanzen aus den halbleeren Containern für vergangenes Gedenken beherrschte die von weichem Stein gesäumten, rutschigen Kopfsteinpflaster wie die streunenden Straßenkatzen ihren Stammkiez. Dort liegt Hector Berlioz, hier eine unbekannte Dame aus dem letzten Jahr.
Ich muss an den Patenonkel denken (der nicht wirklich mein Patenonkel ist, aber das ist kompliziert), der kürzlich an einem allen verschwiegenen Tumor starb. Er wird keinen gothischen Kathedralenturm haben, der sich dem Tod entgegentrotzend an Pariser Gässchen schmiegt – aber er hatte eine lange Reihe von Menschen, die die Schwere von seinem Grab nahmen, in die Tasche steckten und ihm dafür einen Gedanken hinterließen. Zusammenhalt lässt sich nicht in Stein hauen.
Eine Antwort auf „Sterne und Steine“
Lieber Jesko,
sehr schön beschrieben. Was ich wunderbar finde ist, dass Du zur Entdeckung der Langsamkeit zumindest die Bahn, sprich den TGV, benutzt und nicht das Flugzeug. So hast Du zumindest die Chance, mehr von der Erde zu sehen und Dich gut auf Deinen Startpunkt zu freuen. Und das mit dem Zusammenhalt zwischen uns Menschen sehe ich auch so: Er ist immer in Bewegung und lebt von der Bewegung der einzelnen Menschen aufeinander zu.
Seit behütet und beschützt!
Dein Paps