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Gratwanderung

 

Zweihundert Meter fällt der Fels, schräg und glatt, rechts von mir bis zum Ozean ab. Links, neben den fußbreiten Steinen, über die ich mich Dank im Fels befestigten Seilen fortbewege, beinah ebenso weit durch Gestrüpp und Stein hinab. Ein Alternativ-Weg zum offiziellen Camino, nicht beschrieben in den Reiseführern – ich sehe, warum. Doch der Blick macht alles wett. Als ich nach dem ersten steilen Aufstieg auf einer Weide stehend zum ersten Mal aufs Meer blickte musste ich laut lachen vor Freude. Ein schwerer Weg lässt einen Dinge ganz anders wertschätzen.

Von Irun, meinem Startpunkt heute morgen, wo ich gestern nach meiner Bahnfahrt in der ersten Pilgerunterkunft zwar ein Bett, aber nicht allzu viel Schlaf gefunden hatte, wanderte ich zunächst zu dem ebenfalls abseits der Route liegenden Hondarribia, einer mittelalterlichen Baskenstadt, deren schmale Kopfsteingässchen und bunte Fischerhäuschen die Kulisse meines zweiten Frühstücks boten. Dann ging es steil hinauf, bis auf einen von alten Wachtürmen bestückten Grat, durch brombeertragende, farnumwedelte Wälder und über besagten Felsweg. Kaum glaubten die protestierenden Füße, dass es irgendwann noch hinab gehen sollte, als sie schließlich sanft schmerzend das Ein-Straßen-Dorf Pasaia erreichten. Eine Plaza, eine Fähre zum zweiten Teil der Stadt, 2000 Einwohner die sich alle persönlich zu kennen scheinen und eine Herberge in der Rückseite einer am Berg gelegenen Kapelle.
Senora Cariña und Senor Abuelito (wie stets verrate ich keine wirklichen Namen) sind die unglaublichsten (ehrenamtlichen!) Herbergseltern. Dass sie sich nicht angeboten haben, die 14 untergebrachten Pilgerer nach San Sebastian zu tragen, liegt vermutlich einzig daran, dass sie niemand fragte. Schon um halb fünf ist die Herberge voll, Nachkommende werden an Hostels weiterempfohlen. “Gestern haben sie schon um 13 Uhr gewartet, bis wir um 16 Uhr aufgemacht haben!”, erzählt Cariña, und dabei sei das ja noch wenig hier im Vergleich zum Camino Frances. Ich bin froh, auf diesem Weg zu sein – und zu den ersten 14 zu gehören. Cariña und Abuelito offenbar auch: ich bin der Einzige, der den diversen nicht-spanisch-sprechenden Deutschen übersetzen kann (denn Abuelitos Englisch ist vor allem gut gemeint). “Können wir dich adoptieren?”, fragt Cariña während wir die Wäsche anderer Pilger von der Leine reinhängen, weil es zu regnen begann. Ich unterzeichne schnell die notwendigen Papiere und bin jetzt offiziell Spanier und Sohn von Cariña und Abuelito (die natürlich nicht mal ein Paar sind). In Cariñas Vorstellung zumindest. 🙂

Wen ich sonst noch auf dem Weg traf:
– Ein schwangeres Pärchen
– Busqueda, eine verwirrte Musikerin die vor der Herberge in Pasaia nach Hinweisen suchte, ob sie schon in San Sebastian ist
– Ein Lehrer, der in vier Wochen den gleichen Weg wie ich in acht Wochen laufen will, aber das gleiche Tempo wie ich drauf hatte (und mit mir den Alternativweg am Grat erklomm)
– Die G’muatlichkeit, ein Pärchen aus dem Schwarzwald, das mir noch einige Mal über den Weg läuft, obwohl sie jeden Tag sagen sie wollen nicht so viel laufen, und gönnen sich eher ein Hostel als die Herbergen (gemessen daran begegne ich ihnen wirklich häufig und freue mich an ihrer G’muatlichkeit)

Die Kirche Santa Ana, die mein Ein-Nacht-Zuhause geworden war (was für einen Unterschied zwei Hospitaleros machen können!), verschwand am Hang von Pasaia früh am nächsten Morgen, als ich im Nebel der Bucht mit der Fähre übersetzte und mich auf den Weg nach San Sebastian machte. Die verwirrte Musikern ließ ich bald hinter mir, während ich die bewaldeten Serpentinen an den Atlantikküstenhängen durchschritt. Der Küstenweg schlängelte sich noch nachtnass vor mir, und hinter mir tauchte Sorpresa auf, mit Schlamm auf den Hosen und einem Grinsen im Gesicht. “Ich sollte vielleicht doch nicht die Flip Flops tragen!”, sagte Sorpresa wie von ihrer eigenen Erkenntnis überrascht, wechselte zum richtigen Schuhwerk und füllte ihre Flasche an der Wasserquelle auf an der ich saß. Die verbleibenden, wenigen Kilometer bis San Sebastian legten wir gemeinsam zurück, und entschieden uns halb spontan, trotz mittäglicher Ankunft den Rest des Tages in San Sebastian zu bleiben, uns früh einen Platz in der Herberge, einer im Sommer ungenutzten Schule, zu sichern und uns von der Stadt überraschen zu lassen. Mein linkes Knie dankte es mir – unerwarteterweise sind es nämlich offenbar nicht Blasen, die meine größte Herausforderung sein werden, sondern eine vom auf- und vor allem abwärtslaufen strapazierte Kniescheibe. Was soll ich sagen, sie tut wirklich weh. Und das noch so kurzer Zeit. Ich war überraschter als Sorpresa, die mir eine Kniebandage lieh um sie vorerst etwas zu stützen.

San Sebastian also. Eine europäische Großstadt, wie europäische Großstädte eben so sind: eine Altstadt, ein Zentrum mit guten Restaurants und hohen Häusern, ein Park, ein Kulturzentrum in einer ehemaligen Fabrik; um ehrlich zu sein, mehr als diesen einen Tag braucht es nicht wirklich. Natürlich, wirklich entdecken wird man die Stadt erst mit Wochen und lokalen Kontakten – aber ob man nun einen oder zwei Tage bleibt, wird wenig ändern. Was die meisten europäischen Großstädte hingegen nicht haben: Einen Weststrand an dem man schwimmen (oder besser: gegen die Wellen springen) kann und sich ein Sandwich-und-Cidre-Abendessen bei Sonnenuntergang können kann. Pilgerleben Enthaltsamkeit? Schon, aber eben auch mal mit Überraschungen, kurzen Wandertagen und Stränden. Und der Hoffnung an sich bald anpassende Knie für die nächste Gratwanderung – Richtung Gernika.

5 Antworten auf „Gratwanderung“

Lieber Jesko, dann wünsche ich Dir zum einen eine wieder genesende Kniescheibe und auch weiterhin so wunderbare Menschen eie das nette Ehepaar. So komme ich nun auf relativ kurzem (?) Weg zu einem spanischen Sohn.
Sei behütet!
Paps

Da bin ich der gleichen Meinung. Ich finde, du schreibst sehr eindrucksvoll, bildhaft und für die nicht-beteiligten sehr anschaulich. Mal abgesehen vom defekten Knie hast du schon wieder in solch kurzer Zeit so viele Erfahrungen, Erlebnisse und nette Menschen kennenlernen dürfen; dass es sich sicherlich dafür schon mal gelohnt hat. Wenn du auch sicher nicht der Einzige Pilger-Schreiber bist und viele Menschen hierüber ihre Erfahrungen und evtl. blogs geschrieben haben, so wünschte ich, irgend jemand von einem Verlag würde deine Schreibweise mal lesen und dich später bitten für ihn zu schreiben. Ich jedenfalls unabhängig der Tatsache, deine stolze Mutter zu sein, lese deine Berichhte sehr gerne. In der Hoffnung auf Knieschmerz-Besserung und langsamem aber stetem Vorankommen wünsche ich dir weiter alles, was du brauchst. gby. Nanni

Buen camino, peregrino! Ich beneide Dich ein wenig, wenngleich ich bislang nur den Camino real gegangen bin, weiß ich doch, dass es in Europa nichts gibt, was dem Camino de Santiaog gleichkommt. Jedes Mal, wenn ich über meine eigenen Camino-Erfahrungen spreche, steigt dann dieses altvertraute Gefühl von Sehnsucht und Wehmut in mir auf – Saudade vielleicht, wie die Portugiesen sagen würden!
Y no te olvides: pan y vino hacen el camino!
Un abrazo!

Ich lese voller Freude, wie schön! Jetzt habe ich hinten angefangen und werde gleich einmal verfolgen, was das Spanisch und das Knie machen werden. Erst einmal: In San Sebastian war ich auch schon mal! Als ich mit 19 Interrail durch Frankreich+Spanien gemacht habe. Für mich mehr ein Städte-Trip, umso toller, dass Du uns alle hier mal zum Wandern-durch-Europa inspirierst! Pola (die jetzt die anderen Einträge liest)

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