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Fast wahre Großstadtmärchen Texte

Weltraum-Tierärzte

Das ist Jonas; neun Jahre, schwarzes Haar und kluger Blick
Wenn er bastelt, merkt man schnell, die kleinen Hände sind geschickt
Leichte Fehlsicht, daher Brille, doch sein Mund kompensiert
Wenn er redet, denkt er schneller, und ist hochkonzentriert
Wenn er sich vermalt, winkt er ab, sagt „am Papier lags“
Mag Eisbär’n und Astronauten, wird mal Weltraum-Tierarzt
Denn zuhause kriegt er alles, was er noch zum Lernen braucht
Ist er neugierig, erklärt man ihm Physik und fernen Brauch
Nachmittag im Zoo, Geburtstag im Planetarium
Jahre später geht er auf das Nachbarstadtgymnasium
War zwar nie der beste Schüler, doch er kann den Stoff kapieren
Ein paar Nachhilfestunden, und es reicht um zu studieren
Geschickt und kann gut reden, und auch ausreichend gescheit
Das ist Jonas, zwanzig Jahre, und der Zukunft wohlgeneigt

Drei Kilometer entfernt:

Das ist Jerome; neun Jahre, schwarzes Haar und kluger Blick
Wie das Origami-Faltpapier ist er sehr oft geknickt
Leichte Fehlsicht, daher Brille, doch der Mund kompensiert
Spricht zu viel, Kritik von außen klingt fast schon konzertiert
Mag Eisbär’n und Astronauten, doch nicht am Papier lag’s
Dass er nach der Schule irgendwann mal auch auf 4 harzt
Denn zuhause ist egal, wofür der Junge nun mal brennt
Wenn man Zooausflüge wegen Geld nur vom TV kennt
Vater abgehauen und Mutter schuftet voller Plagen
Keine Zeit um ihm zu helfen mit den Mathe-Hausaufgaben
Die meiste Zeit allein mit PC und Fertigessen
Die Int’ressen schon vergessen, Klasse doppelt abgesessen
Nach der 10. abgebrochen denn man gab ihm keine Warnung
Was er nun im Leben anfängt, davon hat er keine Ahnung
Geschickt und kann gut reden, wäre ausreichend gescheit
Das‘ Jerome, zwanzig Jahre: Hoffnungslosigkeits-geweiht

Jerome und Jonas sind erfunden, doch ihre Lebensläufe echt
Sag mir wie ist dieser Unterschied im Leben noch gerecht?
Der eine wird erfolgreich und dem andren geht es schlecht
Was entscheidet, ist nicht Klugheit, sondern Klasse und Geschlecht
Der Computer in der Wohnung und die Bibliothek
Schlüssel- oder Scheidungskind und auch der Schulweg
Ein „Kind, du schaffst das schon“ oder ein „Das ist nichts für dich“
Denn jeder Satz von deinen Eltern erhält doppeltes Gewicht
Und das ist wichtig, richtig, aber schau dir doch die Welt an
Ein Kind ist so viel mehr als nur die Durchschrift seiner Eltern
Doch um Chancen zu erhalten, seinen eig’nen Weg zu gehen
Die Talente zu entfalten, Interessen Raum zu geben
Drehen wir die Zeit zurück. Noch sind sie neun Jahre alt
Bau’n die Räume für sie um und geben ihn‘ neue Gestalt:

Dort:
Der blaue Raum, tausend Bücher zum Lesen
Über Weltall-Entstehung und die schönsten Tierwesen
Für Zoo-Ausflüge leiht man Bio-Bücher und vergleicht sie dann
Selbst Vögel und Insekten hab’n sie so recht leicht erkannt
Auf der Couch liegen Jonas und Jerome und sind am Aushecken
Wie sie Weltenwissen ohne Lehrer endlich aufdecken
Novellen so viel spannender, wenn man freiwillig liest
Und vielleicht dann sogar Goethe irgendwann wirklich geniest
Mittwoch Nachmittag ist Zeit mit den Geschichtenpaten
Und in der Mittagspause nebenan Gerichte braten

Denn hier:
Ist nicht nur Mensa für die tägliche Verpflegung
Sondern internationale Küchentopf-Geschmacks-Begegnung
Gemüse aus dem Garten und arabische Wochen
Jeden Montag können Jonas und Jerome auch selber kochen
Geschickt schneiden sie Schnittlauch oder rühren Saucen an
Isst man diese Chiapati wirklich mit der bloßen Hand?
Das ist scheinbar Tradition bevor man diese Kost zerkaut
Schnell die Hände waschen, denn sie haben grad noch Rost geschraubt

Da drüben:
in der Werstatt voller tausender Schrauben
Den Computer selber repariert ist das denn echt zu glauben
Die Grafikkarte ausgetauscht, den RAM-Speicher gelötet
Und bei der ganzen Sache nicht mal Daten weggetötet
Jerome führt hier den Kolben, und Jonas reicht ihm Zinn
Herr Meyer hilft nur da wo 6 Hände halt leichter sind
Bringen das Gerät zurück

Hierher:
in den Computerraum
Wenn die beiden zu lang zocken hält Frau Brede sie im Zaum
Doch am liebsten nutzen sie das Internet-NASA-Projekt
Bei dem man suchen helfen kann wo sich der Planet 9 versteckt
Am Sonnensystemrand, beinah hätt Jonas ihn erkannt
Doch es war nur ein brauner Zwerg der Wissenschaft bereits bekannt
Das haben beide recherchiert um ‘ne Blamage zu vermeiden
Schon bald können sie Fake News und Erfahrung unterscheiden

Das hilft auch bei Hausaufgaben, und später Referaten
Sie lernen jetzt zusammen, müssen Choice-Tests nicht mehr raten
Ein paar Stunden Mathe-Hilfe gleichenletzten Schwächen aus
Werd’n nie Mathe-Profis doch reicht es für’s Abi-Rechnen aus
Doch das Reden ist und bleibt noch ihre größte Stärke
So vollbringen sie als Duo-Schülersprecher große Werke
Letztes Jahr gründeten sie selber einen Club zum Debattieren
Wo sie im Wettbewerb mit and’ren Ganztagsschulen jetzt brillieren

Zwei Jungs plus vier Räume, das macht hundert Möglichkeiten
Das ist zwar nicht aus Mathe, aber aus Erfahrung abzuleiten
Ja, vielleicht ist die Geschichte hier erfunden und gelogen
Aber sind wir uns nicht einig: der Versuch könnte sich lohnen
Denn die Abschlüsse sind gut für uns’ren Jonas und Jerome
Der eine wird mal Tierarzt und der and’re Astronom
Geschickt und könn‘ gut reden, und auch ausreichend gescheit
Jerome und Jonas, zwanzig Jahre – und die Welt steht ihn bereit.