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Fast wahre Großstadtmärchen Texte

Online-Architektin

Das ist Lea; neun Jahre, braunes Haar und kluger Blick
Schnelle Auffassungsgabe, und quer Lesen ist ihr Trick
Dass die andr’en ständig quatschen, nervt sie, und versteht sie kaum:
Sie könnt‘ stundenlang nur zuhör’n, gibt man ihr nen ruhigen Raum
Sie liest Bücher, wo die Lösungen erst weit hinten versteckt sind’
Sie mag Häuser und Computer – wird mal Online-Architektin

Denn die Schule gibt ihr alles, was das Lernen ihr erleichtert
Auditiv und visuell, wie nicht jeder das vielleicht hat
Ob Mathe, Physik, Deutsch, sie spielt darauf wie Partitur-
Schreibt Jahre später letztlich auch ein 14-Punkte-Abitur
Nur Englisch und Musik sind ihre großen beiden Schwächen
Doch dank Nachhilfe und Internet kann sie auch die noch brechen
Stipendium fürs Studium, sie weiß ja, wie das geht
Hörsaal so wie Klassenzimmer, wenn man nur den Prof versteht.
Geschickt und kann gut rechnen, und natürlich auch gescheit
Das ist Lea, zwanzig Jahre, und der Zukunft wohlgeneigt

Drei Kilometer entfernt:

Das ist Marie; neun Jahre, braunes Haar und kluger Blick
Der Stress von ihrer Schule sitzt ihr lang schon im Genick
Doch was Lehrer vorne labern, das versteht sie meistens kaum
Und so baut sie lieber eig’ne Räume, und der Tag wird Traum
Sie mag Häuser und Computer, doch schon bald muss sie entdecken
Dass die Tagträume verschwinden, wenn wir sie nicht wirklich wecken
Denn wenn and’re Schüler schreiben, baut sie Dinge aus Karton
Und statt Hausaufgaben stiehlt sie sich zu Freundinnen davon

Was sie nicht anfassen kann, ist für sie nicht real
Nur die eine Woche Schulprojekt, die war ihr nicht egal
Und so döst sie durch die Jahre, weil man sie nicht motiviert
Weil die frontale Erzählung ihren Geist narkotisiert
Die Int’ressen werd’n vergessen, denn am Schulalltag gemessen
War Marie ganz einfach auf die falschen Dinge hier versessen
Abi grade so, Minijob plus aufgestockt
Weiter lernen nach der Schule, darauf hat sie auch kein Bock;
Geschickt und kann gut rechnen, und auch eigentlich gescheit
Das‘ Marie, zwanzig Jahre: Hoffnungslosigkeits-geweiht.

Marie und Lea sind erfunden; doch ihre Lebensläufe echt
Sag mir wie ist dieser Unterschied im Leben noch gerecht?
Die eine blüht erst auf, während die andre schon vergeht
Was entscheidet, ist nicht was, sondern wie man es versteht
Auf die Haptik fokussiert, oder eher visuell
Mehr ein langsamer Prozessor oder alles viel zu schnell
Will man mehr im Stillen lesen oder einen freien Raum?
– Lieber einen Lektor, oder Partner im Vertrau’n?
Und natürlich wollen wir jetzt nicht Frontal-Lehrer verpetzen
Aber Kinder könnten so viel mehr, als Stühle zu besetzen
Denn um Chancen zu erhalten, und den eig’nen Weg zu gehen
Die Talente zu entfalten, Interessen Raum zu geben
Nutzen wir den kurzen Zeitraum und das richtige Momentum
Bring’n Prozesse in Bewegung, stellen Qualität ins Zentrum
Drehen wir die Zeit zurück. Noch sind sie neun Jahre alt
Bau’n die Schule für sie um und geben ihr neue Gestalt

Fühlt ihr wie das Leben rhythmisch durch die Räume rauscht
Lauscht ihr wie sich jemand mit euch auf der Couch austauscht
Euer anfänglicher Plausch sich zu Erfahrungen aufbauscht
Wie der Meter unter euren Füßen Hoffnungen neu tauscht
Theoretisch ist das etwas was wir ihnen reichlich gönn’n
Und ihr fragt mich wie wir gute Ganztagsschul’n erreichen könn’n?
Kein Problem.
Wir müssen halt hingehen.

Hier zum Beispiel, in das grüne Zimmer, hört ihr schon das Klackern?
Wo Lea und Marie sich leise konzentriert abrackern
Sie träumen wie in Trance tippend, lasst sie uns nicht wecken
Weil sie sich gerade in den Code der Sims-Spiele einhacken
Beim Programmieren fokussier‘n sie sich auf die Fassaden
Denn wenn etwas nicht klappt, geh’n sie nicht auf die Barrikaden
Sondern testen so lang weiter, bis es läuft, wie sie es wollen:
Das heißt Bäume auf den Dächern oder Häuser jetzt auf Rollen
Sie tippen Codevokabeln, bis ihnen die Köpfe jucken
Und dann zur Mittagspause nebenan in Töpfe gucken

Kommt, wir folgen ihnen rüber, in die gelbgestrichne Küche
Riecht ihr aus der Richtung schon die richtigen Gerüche?
Hier kommt nix aus der Mikrowelle / alles frisch gemacht
Und sogar an die vegetarische Marie gedacht!
Selbst gebacknes Brot oder russische Wochen
Jeden Montag können Lea und Marie auch selber kochen
Plini probieren sie noch aus, aber Auflauf könn‘ sie schon-
Das hab’n sie Hand in Hand gemacht, zusamm’n mit Jonas und Jérôme
Denn das ist ihre Tradition hier in der Küche der Geschlechter
Wenn nur Jungs oder nur Mädels kochen, wird es doch nur schlechter!
Den Schokoladen-Nachtisch woll’n sie alle schnell verspachteln

Denn danach geht es nach draußen, um den Schuppen zu verspachteln
Da drüben im Garten, kommt mit, wir müssen nicht warten
Was das Projekt dort wird, ist schon recht leicht jetzt zu erraten
Lea lasiert Latten und Marie zeichnet die Pläne
Zusammen zieh’n sie gleich das Dach hoch, gänzlich ohne Kräne
Die Winkel sind berechnet und das Holz ham’ sie gesägt
Die Kosten und das Budget für Projekte abgewägt
Frau Schubert hat gesagt, ihr Projektplan sei der Beste
Und schon bald empfang’n sie hier in diesem Schuppen erste Gäste

Aber dann geht Lea erstmal wieder in die Stille Kiste
Jeden Morgen trägt sie sich für eine Stunde auf die Liste
Manchmal ungestört ‘nem Podcast lauschen und zum Bücherlesen
Kann sie hier ein bisschen von dem Lärm der anderen genesen

Die Bücher leiht sie aus, aus der blauen Bibliothek
Zwischendurch läuft sie natürlich auch Marie über den Weg
Die verbringt die Stunde lieber in dem offenen Café
Denn zwischen all den Anderen ist ihre Schläfrigkeit passé
Das Grundrauschen von Menschen hilft ihr, sich zu konzentrieren
Und die fehlende Aufmerksamkeit von sonst zu kompensieren
Ab und zu belohnt sie sich / mit einem kurzen Plausch
In den Zeitblöcken dazwischen lernt sie dafür wie im Rausch
So sind Lea und Marie zufrieden ganz auf ihre Weise
Die eine braucht Gewusel und die andre mag es leise

Ein paar Stunden Englisch-Extra (gegen Schwächen) gleichen aus
Werd’n nie Übersetzerin, doch für das Abi reicht es aus
– Natürlich ist nicht plötzlich jede Schulnote perfekt
Doch aus Begeisterung für MINT wächst bald ihr eigenes Projekt
Ham’s Energiespar-Smart System fürs Mehrfamilienhaus ersonnen
Mit der ganzen Programmierung letztens Jugendforscht gewonnen

Zwei Mädchen plus vier Orte, das macht hundert Möglichkeiten
Das ist zwar nicht aus Mathe, aber aus Erfahrung abzuleiten
Ja vielleicht ist die Geschichte hier erfunden und gelogen
Aber sind wir uns nicht einig, der Versuch könnte sich lohnen
Diese Orte zu erreichen, die doch so viel zählen sollen
Wenn wir wissen, welche Wege wir wohl wählen wollen
Denn die Abschlüsse sind gut für unsere Lea und Marie
Die eine baut mal Häuser und die and’re macht IT
Geschickt und könn‘ gut rechnen, und natürlich auch gescheit
Marie und Lea, zwanzig Jahre – und die Welt steht ihn‘ bereit.


Dieser Text entstand als Kiezpoeten-Auftragstext für das DKJS-Projekt “Ganztägig Lernen”. Es ist der Nachfolger von “Weltraum-Tierärzte“.