Kategorien
Reiseblog

Ach, Europa

Irgendwo hinter spärlich bewachsenen Bergen, olivbrauner Vegetation und staubig-brüchigen Serpentinen im Norden einer kleinen Insel, die Asien näher ist als dem griechischen Festland; dort, wo Europa seine unsichtbaren Mauern durch das Mittelmeer zieht und in der Verteidigung seiner Werte dieselben vergisst, dort liegt ein Friedhof, der nie einer sein sollte.
Micha und ich parkten das Auto, mit dem wir sonst Flüchtlinge von Moria zur Happy Family fahren, am Rande einer von Schafböcken gesäumten Bergstraße, um den letzten Kilometer zu Fuß zurückzulegen. Die Sonne des Mittelmeers über unseren Köpfen. “Dafür seid ihr hergekommen?”, fragt ein vorbeifahrender Wohnmobilbesitzer, “Ja, dort über den Hügel. Es ist sehr tragisch.”
Unsere Frage nach dem Weg erübrigt sich, als die Straße den höchsten Punkt erreicht – es ist unübersehbar. Vor uns liegt der Rettungswestenfriedhof.

Kategorien
Reiseblog

Einzelschicksale?

Wenn wir von unserer Zeit auf Lesbos erzählen, hören wir oft Sätze wie “Respekt, dass ihr das könnt.” Das ist lieb gemeint – aber eigentlich gebührt uns mitnichten solcher Ehre. Hier sind ein paar Alternativvorschläge, wem hier in Mytilene tausend Respektsbekundungen zufließen sollte, oder Glückwunsche, oder Mitleid. Oder alles zusammen. Eine garantiert unvollständige Sammlung von Einzelschicksalen:

Kategorien
Reiseblog

Die Hoffnung ist der Anker der Welt (afrikanisches Sprichwort)

Ihr lieben,

im Rahmen unseres Flüchtlingseinsatzes erhalten wir über unser Netzwerk immer permanent  Nachrichten, wenn wieder Flüchtlinge von den Rettungsorganisationen hier vor Lesbos aus dem Meer gerettet und anschließend nach  Lebos gebracht werden.

Jeden Abend (!) sind es meistens weiterhin 60-120 Menschen; pro Monat sind es dann ……

Auch diese Menschen werden dann nach Moria (siehe Erklärung in den Voreinträgen) gebracht.

In keiner Nachrichtensendung wird darüber noch berichtet, es sind vergessene Einzelschicksale, genauso wie die 5.000 Menschen, die in Moria darauf warten, dass sie nach Wartezeiten von teilweise bis zu 1,5 Jahren entweder eine Zusage oder wenigstens eine Ablehnung ihres Asylantrages erhalten, auch wenn sie im letzteren Fall dann die zwangsweise Rückführung in Ihre ‘Heimat’ befürchten müssen.

Ich möchte Euch dazu einen besonderen Link ans Herz legen:

Es ist der Filmemacher Jolinda, der einmal selbst in Moria leben musste und nun über seine Website mit Unterstützung von Volunteers seine Eindrücke von dort und von den katastrophalen Umständen dort per Film festgehalten hat:

http://joindaproductions.wordpress.com

  • Euer (sehr beschämter) Michael
Kategorien
Reiseblog

Trauriger Sonntag

Heute ist für mich -und weiß Gott nicht nur für mich- ein trauriger Tag im Rahmen unseres Flüchtlingseinsatzes auf Lebos:

Heute habe ich über unser Netzwerk erfahren, dass in Moria – dem völlig überfüllten Flüchtlingslager der Regierung, in dem laut Berichten der Flüchtlinge und belegt durch heimlich gemachte Handyaufnahmen täglich Gewalt und Misshandlungen erfolgen – gestern früh ein fünfjähriges Mädchen unter noch nicht geklärten Umständen gestorben ist.

Kategorien
Reiseblog

One Happy Family

Es ist warm und wuselig, aber auch bunt wie in einem Hippiedorf aus den 70ern. Wenn der Van durch ein steil ansteigendes Industriegebiet gefahren ist, öffnet sich uns ein Tor zu einem versteckten kleinen Grundstück, mit Wandmalereien und Meerblick. Kinder aus Syrien, Lybien, Irak und hundert anderen Ländern spielen auf dem Klettergerüst, Jungs spielen Basketball, Mütter sitzen auf der Steinballustrade und unterhalten sich, während die Männer sich im Café überzuckerten Tee besorgen.
“Dieser Ort ist einfach magisch”, sagt der kleine Boss, “er gibt mir eine Aufgabe. Vorher, in Moria, gab es nur Warten auf Mittagessen, Warten auf Abendessen, Schlafen. Ohne One Happy Family hätte ich schon aufgegeben.” Der kleine Boss ist gerade 21, er ist seit vielen Monaten hier, seit er auf einem der Boote, die weiterhin jede Nacht rund 80 Flüchtlinge nach Lesbos bringen, in Mytilene ankam. Er hilft, die anderen Helfer unter den Flüchtlingen zu organisieren, die Kasse zu machen, das Büro zu führen. Wenn es mal Streit gibt, stellt er sich mit Ruhe dazwischen und glättet die Wogen. Der kleine Boss ist sehr wichtig hier, und er macht gute Arbeit. Das weiß er.

Kategorien
Reiseblog

Hoch oben

In einer kleinen Propellermaschine, mit kaum mehr als 15 Reihen Passagieren, fliegen Micha und ich über das wellenkräuselnde Mittelmeer und braun zerklüftete Inseln. Zwischen Freitag und heute, einem vollwuselndem New York und jener Insel, die anzusteuern wir im Begriff liegen, sah ich viele Wolken – einige davon von oben. Denn auch wenn das im letzten Beitrag so klang: noch geht es keineswegs nach Berlin zurück.
Zunächst zog es mich nach Zürich, wo der Schweizer Teil meiner Familie zum all-vierjährlichen Treffen geladen hatte. In Glarus, dem Kanton mit der kleinsten Hauptstadt Europas (eigentlich kaum mehr als ein Dorf), fanden sich 34 Cousins und Cousinen, Tanten, Onkel, Großnichten und Neffen ein, in einem Haus in dem Bergen, zwischen Nebelwolken und schneebedeckten Gipfeln. Es ist eine schöne Tradition, die wir hegen, eine weitverstreute Familie, die sich in unterschiedlichen Gegenden wiedersieht, und versucht, all die Geschichten und Erfahrungen auszutauschen, die in der Zwischenzeit vorgefallen sind. Wanderungen und Musiksessions, Ausflüge und Unterhaltungen über das Seelenleben und die Seltsamkeit der Weltgeschichte. Es war ein Zwischenstopp zwischen zwei Welten, ein Luftholen über den Wolken.
Denn von dort brachen mein Vater und ich auf, um an eine der äußersten Grenzen Europas zu fliegen. Dort, wo verzweifelte Menschen in Schlauchbooten landen, wo Frontex neue Fronten schafft und einige freiwillige Europäer versuchen, einen Gegenpol dazu zu schaffen, und die europäischen Werte auch in die Tat umzusetzen. Zu helfen, wo es eben nötig ist. Auf Lesbos.
Ab heute werden wir zwei von jenen Europäern sein.

Jesko & Micha

Kategorien
Reiseblog

Tausend Kulturen

Ich war ja nur eine Straße entfernt. Eine Häuserblock der aussah wie jeder andere, rote Backsteinmehrfamilienbauten, zwischendrin eine Holzkonstruktion, am Ende der Straße rattert die Metro mit unglaublicher Lautstärke vorbei, getoppt nur vom unablässigen Autoverkehr. Eine Straße weiter beginnt das Paradies der Graffitikünstler, die Leinwand für Maler und Sprüher aus aller Welt. Ich brauchte einen weiteren Tag und eine Streetart-Walking-Tour, um das herauszufinden.
Brooklyn, dessen Größe jene von Manhattan noch deutlich übertrifft, ist zu 90 Prozent eine laute, stinkende, weitläufige Großstadt. Aus der Bodega schallt puertoricanischer Raeggaeton, ein Laster hupt einen Radfahrer von der Straße, der Geruch von Abfall und Essen liegt in der Luft. New York City könnte ein weiteres Beispiel dafür sein, wie sehr die Supermacht sich manchmal nach Entwicklungsland anfühlt. Gleichzeitig jedoch auch das: Wenn du hinter die Dschungellandschaft aus Beton und Stahl guckst, findest du das Bushwick Collective, der jüngste der hipwerdenden Bezirke, wo alternative Bars und lokale Shops erblühen Street Art jeden Tag neu erfunden wird. Diese farbige Vielfalt von Sprühdosenkünstlern beschreiben zu wollen, wäre müßig – wozu gibt es Fotos.

Kategorien
Reiseblog

Campusleben

“Wenn du mich vor fünf Jahren kennengelernt hättest, würdest du mich nicht wiedererkennen. Ich war ein richtiger rightwing-conservative Republican”, sagt Shadow, während wir in dem eindrucksvollen Hauptgebäude der Universität den Prunk eines einstigen Sommerhauses bestaunen. Ich schaue ihn ungläubig an. Shadow ist heute so ziemlich das Gegenteil des rechtskonservativen Republikaners. Er verbringt sein Leben in Anthropologieklassen und Soziologieclubs, versucht (vergeblich) seine Eltern vom aktuellen Stand der Genderdebatte zu überzeugen, schüttelt traurig den Kopf über die derzeitige Klimapolitik und überlegt, zusammen mit seiner undocumented Freundin nach Europa auszuwandern, um seinem jetzt 4-jährigen Sohn eine bessere Zukunft zu ermöglichen.

Kategorien
Reiseblog

Die Einsamkeit und Philadelphia

Einsamkeit ist ein seltsames Gefühl. Manchmal gesucht, manchmal gemieden, manchmal geradezu heilsam, ein anderes Mal in den Wahnsinn treibend. In Philadelphia hat man das nach einst guten Absichten erst zu spät festgestellt. Also, zumindest für viele betroffene Individuen zu spät. Das Eastern State Penitinterary wirkt von außen wie eine gotische Burg, massiv und bedrohlich, und aus heutiger Perspektive trifft das (wenn auch auf andere Weise) umso mehr auf das Innere zu…

Kategorien
Reiseblog

Wohnwagen und Worte

 

Die Grillen zirpen, neben uns die Frösche im Teich. Das Lageefeuer knackt, es nieselt leicht. “Hast du noch genug Whiskey mit Kaffee mir fällt ein ich sollte uns mal langsam was zu Abendessen machen die Küche ist ja nicht so groß bleib nur sitzen ich mach das schon” sagt der Drehbuchautor, der ständig den Faden verliert und in einem unnachahmlichen Tempo durch die Themen unserer Unterhaltung rast. Gerade waren wir noch bei seinem Script, jetzt bei Genderthemen in Komödien, gleich bei seiner Exfreundin. Er hat keinen roten Faden, sondern ein ganzes Netz. Manche der Fäden greift er später wieder auf, wenn man sie fast vergessen hat. Andere nicht. Als er in die millimetergenau angepasste Küche geht, lässt er versehentlich einige der Fäden vor der Treppe seines Tiny-House-Wohnwagens liegen. Vielleicht stolpere ich darüber, wenn mein Whiskeykaffee leer ist.