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Highway nach Santiago

 

Auf der Plaza vor der Kathedrale strahlt die Sonne auf das Kopfsteinpflaster, einzelne Pilger und Touripilger-gruppen durchschreiten die Pforte. Jeder erreicht Santiago auf eine andere Weise. Dutzende, hunderte Menschen kreuzen den Blick, das allübliche “Buen Camino”  wird durch ein “Bienvenidos”  abgelöst. Da sind jene mit den kleinen Rucksäcken, die die letzten 100 Kilometer in Turnschuhen abliefen, das Gepäck im Taxi transportiert, “We are the Champions” singt eine Gruppe vor der Kathedrale. Da sind die Radfahrer, die einen zum ersten Mal nicht aus dem Weg klingeln, sie steigen kurz ab für ein Selfie. Und da sind jene trotzdem noch viele, die den Camino Frances, und wenige, die den Camino del Norte durchpilgerten, besonnen an die schattige Mauer gegenüber gelehnt, den Rücken an den kalten Stein, verloren in ihren Erinnerungen an die letzten Wochen und Monate. Als ich mit Canto und den Gutgelaunten die Plaza betreten, höre ich ein schrilles Aufrufen vom anderen Ende. Colín, die nach dem ersten gemeinsamen Abend im Bisonte weiterzog, kommt auf mich zugerannt, der kleine Rucksack-Berg, den sie mit sich rumtrug, liegt an der Wand. “Ich will gleich nach Finisterre weiter”, erzählt sie, gestern sei sie angekommen, sie ist das am längsten bekannte Gesicht was ich in Santiago treffen soll. Wir essen überteuerte Churros in einem Luxuscafé, in Santiago kennt man selbst hier den Geruch frisch-angekommener Pilger, auch wenn ich seit gestern das Gefühl hatte, inzwischen zu einer Minderheit zu zählen: In Arzua bogen wir auf den Highway der letzten 100 Kilometer Frances ein, “Schmalspurpilger”, lästert Canto, “Tourigrinos” (angelehnt an “Peregrino” = Pilger) betiteln Graffitis auf Wegsteinen sie. Mein leichtgepackter Rucksack zählt plötzlich zu den Schwergewichten, pfeifend laufen Canto und ich den einfachen Weg an sich voranschleppenden, geführten Reisegruppen vorbei, nichts gegen Wandertourismus, aber von Pilgern hat das nichts mehr. “Buen Camino!”, flöte ich, eine Gruppe japanischer Touristen macht ein Foto von uns, ein paar Leute hassen uns für unser Schritttempo. (Aber sicher nicht so sehr wie die laut klingelnd, rücksichtslos an einem vorbeizischenden Mountainbiker.) “Soll ja jeder seinen eigenen Camino laufen,” gesteht Canto ihnen zu, “aber wer ihn so läuft, hat sich nachher wahrscheinlich nicht verändert.” Nach 20 Kilometern steigen die “Partypilger” mit Boombox und Schnapsflasche in privaten Herbergen in Pedruzo ab, wir laufen weiter, der Weg ist plötzlich wieder leer. Nach 36 Kilometern kommen wir in Monte de Gozo an, wo wir die letzte Nacht vor Santiago mit den Gutgelaunten verbringen.
Und dann also Santiago. Für viele ist der Weg hier zu Ende, ich verabschiede mich von dem ein oder anderen bekannten Gesicht. Wir gehen in die Pilgermesse, der Weihrauch schwenkt neblig über unsere Köpfe, irgendwo unter uns liegt angeblich ein Apostel begraben.  Eine Nonne singt, es ist der ansprechende Teil der Messe, der Priester redet über Katholizismus.*

Was bedeutet es, in Santiago angekommen zu sein? Die plötzliche Erleuchtung beim Anblick der Kathedrale? Die Befreiung der Sünden beim Durchschreiten eines Tors? Das langerkämpfte Ende einer Reise? Was macht das mit einem?

Die Erleuchtung war ja viel mehr in der Suche als im Ziel, würde Busqueda vielleicht sagen. “Erwarte nicht zu viel von Santiago, der Weg geht ja noch weiter”, meinte Esperanza. “Lass dich überraschen”, schreibt Sorpresa, und Canto singt den passenden Ohrwurm dazu, während die Gutgelaunten uns Wein auf der Terrasse der Ferienwohnung in der Rua do Franco einschenken. Die Souvenirverkäufer verkaufen Jakobsmuscheln und der Turm der Kathedrale verschwindet hinter einem Baugerüst. In einer engen Seitenstraße hinter der Plaza leuchtet ein kleiner gelber Pfeil auf dem Pflaster, immer Richtung Westen. Wo es weiter geht. Zum Ende der Welt.

* was der Priester hätte sagen können : wie der camino uns gelehrt hat, aufeinander Rücksicht zu nehmen, wo alle mehr geben als nehmen. Wie wir uns auf das Wesentliche konzentrieren konnten, uns vom materiellen  verabschiedeten und den Wert freiwilliger Hilfe oder einer kleinen Geste erkennen. Wie fragil und schützenswert unsere Welt ist. Und wie schön es wäre, das alles, gelernt auf der Universidad de la Vida, in unser normales Leben mitzunehmen. Padre Don Ernesto hätte das vermutlich gesagt. Zum Glück gab es einen kleinen Pilgersegen, 20 Pilger in einer Seitenkapelle, nachdem die Massen die Hallen verlassen haben. Wir reden über all dies, übersetzen es uns in fünf Sprachen, vier polnische Pilger singen zum Schluss das Lied der Pilger. Ihre Stimmen verbreiten sich langsam unter der Kuppel wie zuvor der Weihrauch aus der Butafumeiro eine zweite Luftblase, die uns behutsam umfängt. Dass irgendwo unter uns ein Apostel begraben liegt, ist ihnen wichtig, aber irgendwie auch sehr unwichtig.

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Herbst

 

An dem Tag, als ich “O Bisonte” verließ, warfen die Bäume ihre Blätter von den Ästen. Wer weiß, wie viel Tage tatsächlich vergangen waren, für die Wälder und das Land um mich her müssen es Wochen gewesen sein: Plötzlich war es Herbst. Wenn ich morgens, geweckt von unverbesserlichen Frühaufstehern, die Herberge beim ersten Morgenlicht verlasse, hängt der kalte Nebel zwischen meinen Fingern, und bis die Sonne für die ersten angenehmen Temperaturen gesorgt hat ist der zweite Weg-Kaffee getrunken. Zusammen mit Canto und den beiden ewig Gutgelaunten* (die 15 Kilometer nach dem Bisonte auftauchten und seither für schwarzen Humor und umgetextete Lieder von Canto sorgen) erklimme ich den höchsten Punkt des Camino del Norte (eine unspektakuläre Landstraße auf 700 Metern) und unterschreite die 100-Kilometer-Marke auf dem Weg nach Santiago (ein unspektakulärer Wegstein dem man die goldene Plakette stahl), während um mich das Land zur herbstbraunen Hochebene wird. Der Name der Malerin vom Bisonte öffnet mir die Türe zum Atelier des Bildhauers Ché, der uns bei einem eingeladenen Wein von falschgeschriebenen Guidebooks erzählt, und sichert uns eine Unterkunft und geschenkten Schnaps in der familiären “A Lagoa”. Zu wenig Zeit für zu viel Garten. In der Gruppe der Gutgelaunten läuft es sich schneller, nach 33 Kilometern ist trotzdem abend. Aufstehen, Kaffee, weiterlaufen, verwundert die Pilger beäugen, die ihr Gepäck im Taxi transportieren lassen um die 100 nötigen Kilometer für die Compostela abzulaufen. Manchmal spüre ich das Gewicht meines Rucksacks gar nicht mehr, manchmal laufe ich wie in Trance, keine Gedanken, einfach den Pfeilen hinterher. Wir halten an und pflücken Brombeeren fürs Abendessen, Canto pfeift einen Schlager, er mag keine Schlager, “aber Udo Jürgens ist doch fast schon ein Chansonier”. In einem riesigen Kloster, in dessen Kathedrale sich der Hall eines gepfiffenen Liedes an den moosbewachsenen Wänden spiegelt, machen wir Pfannkuchen mit Schafskäse und Brombeeren, die sich außerdem hervorragend mit Guajada und Dulce de Leche zum Nachtisch mischen lassen, und genießen die Ruhe. Vielleicht zum letzten Mal. Denn der nächste Stopp ist Arzua, jene Stadt, in der der Camino del Norte für die letzten 40 Kilometer mit dem sieben-Mal so häufig bewanderten Camino Frances zusammenstößt. Es ist Herbst, ich ziehe meinen Fließpulli an und lasse Canto und die Gutgelaunten ein wenig voranziehen. Die letzten Schritte auf dem Kies der Nordroute verdienen ein paar Atemzüge Einsamkeit.

*die selbsttitulierte Lachhure und die stets angepisst Schauende, die aber eigentlich ganz gut drauf ist

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Das Haus der Malerin und der Regen

Der galizische Regen prasselt aus allen Wolken, die der Himmel hat aufbringen können, die Schuhe sind nass, feucht klebt das Regencape an den Beinen. Kaum hatte ich zusammen mit Daría auf der Autobahnbrücke Asturien verlassen und das westlichste Land Spaniens betreten, zogen die ersten Wolken auf und begleiten mich nun seit zwei Tagen mit vernebelten Aussichten und Shirts, die nun eben nicht mehr schweiß- sondern regennass sind. Als wir heute mit Colín, die mit ihrem übergroßen Zelt unter dem Regencape wie ein kleiner Berg aussieht, in Mondonedo ankommen, flüchten wir uns in das erstbeste Café gegenüber der eindrucksvollen Kathedrale. Puddingdicke heiße Schokolade mit unten abgesetzter, gezuckerter Kondensmilch schmeckt erst richtig nach Glück, wenn vor einem der Regen auf das Kopfsteinpflaster prasselt. Colín kauft sich einen Flummi im Automaten und lässt ihn so lange auf dem Tisch hüpfen, bis ein kleine Delle entsteht; sie ist einer dieser Menschen, die man gleichzeitig amüsant-sympathisch findet, während sie einem tierisch auf die Nerven geht.
Irgendwann haben wir uns genug gedrückt, und machen uns durch den Regen auf, die letzten (wenigen) Kilometer für heute zu bewältigen. Mitten in den Bergen, während der Fuß durch Pfützen und die Laune durch aufmunternte Lieder stapft, erreichen wir das Haus der Malerin, “O Bisonte”. “Gebt mal eure ganzen nassen Sachen her, ich hänge die mal auf”, begrüßt sie uns, ihr T-Shirt ist dreckig, ihr Gesicht offen, in der warmen Küche dampft Eintopf für den Abend. Auf dem Speicher ihres Steinhauses, wo uns dunkles Holz und harter Schiefer vor dem Regen schützt, erwarten uns heimelige Betten, ein Apfel zur Begrüßung auf der Decke, zwei schnurrende Katzen um die Beine. “Verzeiht die Splitter in der Treppe, das will ich noch renovieren”, entschuldigt sich die Malerin, sie entschuldigt sich für vieles, das uns nicht mal aufgefallen wäre. Seit wann sie das Haus Pilgern geöffnet habe, frage ich, “Schon immer, seit ich es vor drei Jahren gekauft habe,” kommentiert sie nebensächlich. Jeder spendet was er kann, Mosaike in der Dusche und selbstgemalte Bilder an den Wänden; ich fühle mich ein bisschen wie in der Hippiekommune in der ich einst zum Kindergarten ging, nur ohne die Hippies. Schade dass Bettwanzen-Bo* nicht hier ist, er würde erfreut feststellen dass die Biester hier noch nicht angekommen sind.
Die Malerin ist grummelig liebenswürdig, sie bietet mir an noch länger zu bleiben. Während die Wolken sich ausschütten, knistert drinnen der holzofen, ich helfe beim Ausbau des neuen Bads und der Übersetzung eines Begrüßungstextes, zwei Tage später ist eine kleine Familie geblieben, die Malerin, die spanische Pilgerin Esperanza und ein  italienisches Paar, dass vor einem halben Jahr für einen Tag und etwas Hilfe beim Ausbei vorbeikam, der bis heute andauert, und ich. Es sind zwei Tage mit vollen Tischen, Tee im Garten, auffliegenden Ascheflocken aus dem Ofen, italienischen Filmen, Besuche von Nachbarn mit Dudelsack, Schubkarren und Feuerholz. Als ich und Esperanza weiterziehen, lassen wir ein bisschen aufgestapeltes Feuerholz und das Gefühl von Zuhause zurück. In meinem Rucksack liegt der Apfel vom Bett und eine Flasche voller neuer Energie.

Und eins noch:

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“Ich schreite zehn Schritte voran, und der Horizont zieht zehn Schritte weiter.
So viel ich auch laufe, ich erreiche ihn nie.
Was bringt dann noch die Utopie?
Das bringt sie: voranzuschreiten.”
(graffiti in Ribadeo)

*Seit irgendein Pilger vor zwei Wochen die ersten Bettwanzen in eine Herberge einschleppte, verbreiten sie sich in den Rucksäcken der Pilger über die Schlafplätze. Wer bei Verstand ist, stellt seinen Rucksack nicht mehr aufs Bett, guckt vorher nach schwarzen Flecken und schmeißt seine Wäsche etwas öfter in die Maschine. Und dann gibt es da noch den kroatisch-deutschen Militärsanitäter und seit neustem Bettwanzen-Spezialist Bo. Nach seinem ersten Befall verbrachte er eine halbe Nacht an der Waschmaschine, in jeder Herberge wo ich ihn treffe inspiziert er 20 Minuten Bettrahmen und umgebende Wände. Nach Ribadeo läuft er Daría und mir über den Weg, “hatte sie im Rucksack”, sagt er zerknirscht, die Bugspray-Dose noch in der Hand. Jetzt hat er sich ein Zelt gekauft, und während die Regensturzbäche auf unser Dach prasseln, kuschelt er sich in sein bettwanzenfreies Zelt.

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Ciudad de Reencuentros

“Das ist eine gute Stadt”, sagen sowohl mein Gefühl als auch Reflection* neben mir. In einer neuen Stadt zu Fuß anzukommen, hat etwas Besonderes. Nach einer langen Etappe durch die Vorstädte und Gewerbegebiete gelaufen verdichten sich die Häuser, die Straßen werden enger, und plötzlich zeigt sich, von einem Hügel kommend, der fantastische Ausblick auf die Dächer der Hafenstadt Luarca. Ich habe ein gutes Gefühl, als wir zu den Klängen einer Feier eines Barrios an den Hängen die Stufen in die Kleinstadt hinabsteigen, Katzen neugierig unseren Schritten folgend. Auf dem Weg hierhin bin ich Reflection und seinem Arbeitskollegen begegnet, mit denen ich einen angenehmen Abend in der vorigen Herberge verbracht habe. Zusammen mit ihnen stromere ich durch die Stadt der Wiederbegegnungen: die amerikanischen Theologinnen vom Kaffee vor zwei Tagen, die immer größer werdende Gruppe von Spaniern, die leicht verrückte Tantra-Massagistin. Sogar Volver und constance, die ich längst Etappen weiter wähnte, laufen mir am nächsten Morgen über den Weg.

Was sonst noch geschah: einsame Küstenumwege verschönern die letzten Tage Asturien, bevor es nun bald ins Inland Richtung Santiago geht, die schönste Herberge mit Meerblick beim Wäsche aufhängen, Bettwanzen die sich seit knapp einer Woche mitsamt den Pilgern in sämtlichen Herbergen verteilen bleiben ständiges Gesprächsthema, meine Tastatur kann seit einer Wanzenbekämpfungs-Aktion kein c, o oder Leerzeichen mehr (verzeiht wenn ich es irgendwo vergesse zu ersetzen), und heute eine kleine….

Pepe

SoNDERNAcHRIcHT: Nach langen Vorbereitungen erscheint heute mein erstes Kinderbuch “Pepe und der Pupsroboter” im Willegoos-Verlag! Ich bin sehr aufgeregt, wie es anläuft und freue mich nach meiner Rückkehr über die ersten Lesungen. Ihr bekommt das Buch in jedem Buchhandel (bzw. bestellen die das, wenn ihr danach fragt), oder auf

Pepe und der Pups-Roboter

*Reflection verdient einen eigenen Absatz: nachdem er sein Ballon-Unternehmen verließ, bei dem er Party-Luftballons für Led Zeppelin und Kondome für die Rotlichtszene in Amsterdam vertrieb, arbeitete er eine Weile für Google als Fotograf und schulte die Fahrer für das Street View Programm. “Da bekommt man alles am Arbeitsplatz, vom Massageplatz zur 24h-Kantine”, erzählt der inzwischen 60-jährige. “Damit du möglichst lange arbeitest…” Inzwischen ist er Reki-Heiler. “Ich weiß selbst nicht so richtig, wie oder warum das funktioniert, aber solange es den Leuten nachher besser geht mach ich damit weiter…”. Letztes Jahr lief er den camino von Lyon bis Gijon und musste wegen einer Herzattacke und einer Nahtoderfahrung aufhören, jetzt will er den Rest noch laufen…

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Kehrseiten

 

Dies ist ein Blogeintrag für all jene,  die nicht neidisch gemacht werden wollen:

Der Nebel hängt schwer in der Luft. Es riecht nach Stahl und Schwefel, braune Wolken durchdringen die vereinzelt an Wäscheleinen hängenden Kleidungsstücke. Es rattert und brummt,  ein konstanter Geräuschpegel,  ein einsamer,  trauriger Hahn krächzt auf einem mit Maschendrahtzaun umzäunten Rostgrün, Rohre und Fabriklaufbahnen über der Straße, Schornsteine und halb verlassene, halb bewohnte (nicht belebte) Bruchbuden am Wegrand. Apokalypse Land. Bis zehn Kilometer hinter Gijon hängt die rostbraune Kohle- und Stahlindustrie in der Luft.  nur wenige Kilometer Waldweg und schon geht es wieder auf die Landstraße, stundenlang an den wenig moderneren Industrieanlagen vor Avilez entlang,  der Fluss ist blau-grau, die Luft rau, am oberen Ende eines Schornsteins werden Restgifte in stechender Flamme verbrannt,  LKWs brausen an mir vorbei.  Die Strecke von Gijon nach Avilez (beide davon abgesehen mit erstaunlich hübschen Innenstädten) ist postapokalyptisch, lang und ungemütlich.  Nachdem die deutschen Flieger in den 30ern Franco geholfen hatten,  den halben Norden wegzubomben,  kamen in den 70ern und 80ern die deutschen Industriellen, um die Fabriken (die sie dank ergrünender Politik in Deutschland nicht mehr bauen konnten) aus dem Boden zu stampfen und das Land unter einen grauen Schleier zu legen. Heute kommen die deutschen Pilger und laufen an den Schnellstraßen entlang von einer Herberge zur nächsten und beschweren sich dann, wenn sie Bettwanzen in einer der günstigen Herbergen bekommen. So wie ich zum Beispiel. Oder Volver, der zwar schon seinen ganzen Rucksack eingesprayt hat, heute morgen aber wieder mit neuen Stichen aufwacht. “Vielleicht sollten wir heute draußen schlafen”, sagt seine Freundin Constanze, letzten Endes landen wir im verschlafenen Hafendorf San Esteban. Als Pessimist sähe man dort vor allem alte Hafenmaschinen, als Optimist Industriemonumente. Und ein “Salzwasser-Schwimmbad”, das sich als Poolbecken mit Meerwasser un einer Wiese drumherum herausstellt, für das man dann Eintritt zahlen kann. (Oder man geht daneben an den strömungsumrissenen Steinstrand.)
Ja, der Camino ist bei Weitem nicht immer eine Anreihung von ruhigen Waldwegen und abgelegenen Stränden. Lange Landstraßen zerren an der Achillessehne, Asphalt drückt auf die Blasen, in ungewaschenen Herbergs-Bettbezügen lauern Bettwanzen und an den Berghängen entzünden sich Kniescheiben. Die erhoffte Wasserquelle nach Kilometern ist versiegt, die Pension voll und den meisten Wanderern der Rucksack zu schwer. Und dann läuft man eben auch mal einen Tag lang durchs Postapokalypse-Industriegebiet.

Aber dann kommt auch nach San Esteban ein mehrstündiger Weg über Waldwege und entlang verlassener Strände, wo das Morgenlicht sich in Streifen über den Wäldern bricht und der Sand im Wasser golden glitzert. Man läuft zwei Tage zusammen mit Volver und Constanze, die einem dank ähnlichem Tempo seit Güemez schon mehrmals zufällig über den Weg liefen, absichtlich schlecht Spanisch sprechen (“Damit die nicht denken ich verstünde was sie mir dann mega schnell antworten”), Insider, Erinnerungen und Mittagessen mit einem teilen. Und endet einen Tag in einer Hängematte nur wenige Meter vom Strand entfernt – das wird zwar im Morgengrauen wieder kalt. Aber dafür gibts hier auch keine Bettwanzen. Und kein Industriegebiet.

ZUSAMMENFASSUNG: Apokalypse-Land hinter Gijon, Industrie-Romantik ohne Romantik aber dafür ganz viel Smog und Rost, Bettwanzen und lange Landstraßen – aber auch gute Wandertage mit Volver und Constanze, einsame Paradiesstrände und humorgetränkte Waldwege.

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Asturias und das Universum

 

Der Stein ist so glatt, als wäre er geschliffen und poliert, rote Adern ziehen sich im Licht unserer Taschenlampen durch den Fels. Tropfende Stalagmiten versperren uns immer wieder den Weg, um unsere Füße spritzt das Wasser von im Schatten verbliebenden, gefluteten Stellen. Und dann dringt das bläuliche Licht zu uns, wo die Höhle sich unversehens zum offenen Meer öffnet. Mächtige Wellen schwappen den Stein hinauf. nur wenige Meter von uns entfernt, stürzen wasserfallgleich laut rauschend wieder zurück.
“Das ist eine Kathedrale”, murmelt Confianza beeindruckt, während ihre treue Hündin Gaia vorsichtig hinter Sosiego tapst. Wir stehen minutenlang auf einem leicht erhobenen Teil der unterirdischen Höhlen, nur wenige Minuten vom Küstenpfad entfernt, ohne ein Schild dass auf das kleine wunder hinweist (eine lokale Wanderin hatte uns darauf hingewiesen), und bewundern, wie die immer stärker werdenden Wellen in die Höhle spülen.
“Kann es sein, dass die Wellen immer stärker werden?”, frage ich nach einer Weile, weil gerade Ebbe ist, und das sich ja auch in der Regel irgendwann ändert. Sosiego nickt bedächtig und meint, vielleicht sollten wir dann doch besser mal zurückgehen. Wir stolpern zurück ans Tageslicht der asturischen Küste, stumm vor Bewunderung. Sogar Gaia scheint ein wenig kontemplativer zu sein. “Wie gut, dass wir den Umweg über die Küste genommen haben”, kommentiert Confianza, “nach den ganzen Landstraßen Kantabriens wollte das Universum uns etwas zurückgeben”.
Tatsächlich ist Asturien wieder einiges schöner zu laufen als die langen Aspahltstrecken in der Nachbarregion. Ich schlafe in der Hängematte mit Blick aufs Meer, morgenwandere unter einem unendlichen Sternenhimmel, bade an Stränden, laufe durch Eukalyptuswälder, stets mit den Piques de Europa in Sichtweite. Und während das belgische Rentnerpärchen, die mir seit einigen Tagen immer über den Weg laufen, auch den hässlichsten Straßenweg vorziehen, so lange der Weg schneller und die dort vorhanden Restaurants und Herbergen “sehr sauber und gar nicht teuer” sind (was ihr Hauptkriterium ist), lohnt es sich eben manchmal doch, sich Zeit und Kilometer zu gönnen.
So wie einige Tage später, als ich zur Siesta in der Hängematte eingeschlafen bin und von Gaias neugieriger Schnauze geweckt werde. “Jesko!”, ruft Confianza, “ich wusste doch dass wir uns nochmal über den Weg laufen!”.  Sie schläft meistens draußen, wir hatten unterschiedliche Geschwindigkeiten nach der Höhle eingeschlagen, aber “das Universum”, sagt Confianza, und wir laufen Richtung Villaviciosa. “Weißt du, worauf ich mal wieder Lust zu Essen hätte? Linseneintopf!”, meint sie irgendwann aus dem Blauen heraus, was zwar ein witziger Gesprächsanfang ist, aber meine zustimmung erfährt. Ich möchte an diesem Abend noch nach Amandí kommen, einer Empfehlung von Mariposa folgend. “Ich glaub ich suche hier schon was”, verabschiedet sich Confianza, “aber wir werden uns schon noch wieder sehen.” Wir tauschen trotzdem Nummern, falls das Universum anderweitig beschäftigt ist.
Als ich in der wunderbaren, familiären Herberge ankomme, wo eine vier Monate Alte Katze um meine Beine streift, Hühner gackernd über den Hof rennen und die Hospitaleros mit strahlenden Augen beim gemeinsamen Abendessen von der Vielfalt ihrer Gäste berichtet, schreibe ich Confianza, das noch Platz hier ist, und auch Gaia (eine der wenigen Ausnahmen von meiner tendenziellen Abneigung gegen Hunde) kommen dürfe. Keine halbe Stunde später stehen die beiden auf dem Hof, die andere Herberge ließ sie nicht mit Hund hinein, dankbar setzt sie sich zu uns an den Tisch. Es gibt Linseneintopf. “Das Universum!”, sagt Confianza. Leider hat das Universum in dieser Nacht auch beschlossen, ihre Oma den Kampf mit dem Krebs verlieren zu lassen. Zum Glück ist sie heute nicht irgendwo alleine im Zelt, stellen der Hospitalero und ich fest, wir machen Tee mit hausgemachtem Honig, weil das immer hilft, Confianza erzählt uns, was für ein Mensch ihre Oma war. Am nächsten Tag wird der Hospitalero, für den der Camino eben nicht hauptsächlich ein Geschäft ist, sie nach Oviedo fahren, damit sie von dort nach Hause kommt. “Estoy bien”, sagt Confianza zum Absched, “zum Glück hat das Universum mich gestern abend hierher geführt”. Vielleicht wird sie den Rest des Weges später weiter machen, Finisterre (ihr eigentliches Ziel, denn wer braucht schon Santiago) wartet auch auf sie. Wer weiß, vielleicht werde ich sie ja dort wieder sehen, am Ende der Welt. “Das Universum”, wird Confianza dann voller Zuversicht sagen. Und Gaia wird gemütlich um uns herumtapsen, als wäre es das Normalste der Welt.

ZUSAMMENFASSUNG: Endlich wieder schöne Landschaften jenseits der Landstraßen, eine Meereshöhle bei Ebbe (zum Glück), der Zusammenhang von Linseneintopf und dem Universum, Gaia – die Ausnahme meiner Hunde-Abneigung, eine familiäre Herberge und ein Todesfall.

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Auf den Gipfeln Europas

 

Weit unter mir umwabern Wolken die Weiden und Wiesen, dort, wo sich steile Schotterpisten zwischen freilaufenden Pferden und grasenden Stieren hinaufschlängeln. Hier, auf 1.300 Metern Höhe, sitze ich unter den Brana de los Tejos, tausend Jahre alten Bäume die ihre krummen Wurzeln in die Felsbrocken gezwängt haben; letztes Refugium der Kantabrier gegen die Römer, Heiligtum ihrer Vorfahren. Manche nennen es das Stonehenge Kantabriens, manche graben gleich daneben nach wertvollen Metallen (zumindest im letzten Jahrhundert). Und ja, irgendwie scheint es einem Kraft zu geben, hier zu sitzen, auf die weit in die Tiefe gehenden Gebirge der “Piques de Europa” zu blicken und das tausend Jahre alte Holz zu spüren. Was macht einen Ort heilig? Die Tatsache, dass man von seiner angeblichen Heiligkeit gehört hat? Sicher, auch. Ob sich dieses Holz genauso anfühlt, weiß man nichts von seiner Vergangenheit, kann ich kaum sagen. Und doch, so anders als das Kloster von Santo Toribio, wo ich am nächsten Mittag ankommen werde – eine der vier großen Pilgersstätten der Christenheit, weil irgendjemand das angeblich größte Stück von Jesus Kreuz dorthin gebracht hat. Heute ist das wiederum in einem pompösen goldenen Kreuz verpackt, das wiederum in einer Kapelle liegt, die man nur in den heiligen Jahren (wenn der Tag des Santo Toribio auf einen Sonntag fällt) betreten kann. Man kann allerdings einen Euro in einen Automat stecken und dann geht immerhin das Licht an und eine 2-Minuten lange Aufnahme von Chorgesängen kommt aus den Lautsprechern. Sehr heilig hat sich das nicht angefühlt.

Was mache ich überhaupt in Santo Toribio und den Piques de Europa (Gipfel Europas)? Nun, in San Vincente de la Barquera stellte ich fest, dass von dort der separate, alte Pilgerweg nach Santo Toribio (wegen besagtem Kreuz-Stück) führt, mitten durch die ebenso besagten Berge. Da es in eine Richtung allerdings schon ca 70 Kilometer sind, hätte das doch einige Tage an Umweg gebraucht. Also, ja, habe ich ein bisschen geschummelt und mir ein Fahrrad geliehen. Ja, sogar noch in bisschen mehr geschummelt und ein E-Mountainbike geholt. Was, nebenbei gesagt, ziemlich Spaß macht zu fahren. Und ganz schön schwer ist, wie man feststellt, wenn auf halbem Weg auf den Tausendmeter-Berg die Batterie auf Null geht (Daher das schwitzen und fluchen), und die einzige Wasserstelle umringt von kritisch guckenden Stieren ist. Nach einer steilen Abfahrt, über Pfade, die mehr Steinansammlungen sind oder sich irgendwo in weiten Pferdewiesen verlieren, kam ich am Abend schließlich in Potes an. Aus der einfachen Fahrt mit mehreren Folgestunden freien Wanders, wie ich es mir vorgestellt hatte, war eine aufreibende, aber wunderbare Bergetappe geworden. Am morgen brach ich dann auf um von Santo Toribio enttäuscht zu werden und fuhr deshalb noch weiter nach Mogrovejo. Das Bergdorf (in dem man lustigerweise auch “Heidi” gefilmt hat), hat nicht viel außer einem Schulmuseum und einem Turm, 500-jahre alte Häuser und den Ausblick auf die Gipfel Europas. Ob es ein abgeschnittenes Leben hier oben ist? Frage ich mich, dort wo bis vor einer Generation nur einmal im Jahr der Fotograf hoch kam um die Entwicklung der Schulkinder festzuhalten. Ein bisschen, lächelt ein Mädchen mit Smartphone in der Hand und geht einen Umschlag in den Briefkasten werfen. Es ist ruhig hier oben, und der Blick auf die Berge ein wenig wie von Brana de los Tejos. Vielleicht ein bisschen heilig.
Ich nehme mein elektrisch geladenes Fahrrad und fahre auf der asphaltierten, autobefahrenen Straße durch das (atemberaubend schöne) Tal des Deba zurück in die Stadt, und alles ist wie immer. Nichts ist wie immer.

ZUSAMMENFASSUNG: Tausendmeter Auffahrt zu einem womöglich irgendwie heiligen Ort unter tausendjährigen Bäumen in den Piques de Europa, ein deutlich weniger heiliger Pilgerort namens Santo Toribio, von den Vor- und Nachteilen eines E-Mountainbikes und ein kleines, von der Zeit vergessenes Dorf in den Bergen.

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Mittelalter

 

Der Sonnenaufgang tunkt den von der Ebbe ausgetrockneten Meeresarm in orangenes Licht, das Kopfsteinpflaster ist noch Morgenkühl. Hinter mir, in den Gassen zwischen Kirche und Burg, bauen Käsereien und Holzschnitzer ihre Mittelalter-Marktstände auf, es riecht nach spanischer Salami und Heu. Die eigentliche, klischeehafte Mittelalterstadt ist wohl Santillana del Mar, wo ich vor zwei Tagen war; ein unberührtes, 15.-Jahrhundert-Ortszentrum, eindrucksvolle Häuser, eine entsprechende Kathedrale und der Luxus einer gleich im alten Zentrum gelegenen Pilgerherberge. Inzwischen ist Santillana jedoch ein von Touristen bevölkertes Open Air Museum, wo man sich zwar über gutes Essen freuen kann, aber ständig das Gefühl hat, duch eine Postkarte zu laufen. Interessanterweise ist sich die Stadt damit sehr treu geblieben, denn vermutlich ist sie vor mehreren hundert Jahren entstanden, weil sie eben auf dem Pilgerweg nach Santiago lag, und die Reisenden nach ganz Europa hier hindurchzogen, mit ihren eigenen Bedürfnissen, mit ihrer jeweiligen Kultur und dem Bedarf nach Betten und Essen. Ich revidierte meinen Plan, länger dort zu bleiben, und schaute mir stattdessen die Cuevas de Altamira an, die wohl ersten Höhlen, in denen die Feinheit und Detailgenauigkeit der Höhlenmalereien von vor 14.000 Jahren entdeckt wurde. Nachdem Mitte des letzten Jahrhunderts tausende von Touristen durch die Höhlen gingen, Graffitis über den alten Malereien hinterließen und das Überleben dieses alten Kunstwerks gefährdeten (und dann beschwert sich diese Generation über Graffitis unserer Zeit, die auf hässliche Autobahnbrücken gesprayt werden…), musste sie leider für die Öffentlichkeit gesperrt werden. Heute gibt es eine angeblich originalgetreue Kopie gleich nebenan, die man sich stattdessen anschauen kann. Aber irgendwie fehlt der Zauber, sobald man weiß, dass es nicht aus der Hand eines der ersten begabten Homo Sapiens stammt, sondern von einem sicher ebenfalls (wenn auch anders) begabten Rekonstrukteurs.
Aber zurück zum Anfang. Inzwischen bin ich in San Vincente de la Barquera angekommen, einer Stadt mit mittelalterlichem Kern, der trotz Mittelalter-Markt ein bisschen Magie behalten hat. Gelegen zwischen zwei rías (Meerarme, die sich weit ins Landesinnere ziehen und bei Ebbe wie ein halb ausgetrockneter Fluss erscheinen), erreicht man sie über die einst längste Brücke Spaniens. Ich treffe den in Österreich losgewanderten Pilger wieder, der sich ohne Spanischkenntnisse mit den Phrasen “si, claro” und “en serio?” problemlos durch eine Konversation mogeln kann, genieße einen morgendlichen Sonnenaufgang und starte dann zu einer kleinen Exkursion, die mich zwischenzeitlich vom Camino de Santiago wegführen wird… doch dazu später mehr!

ZUSAMMEFASSUNG: Touristenüberlaufendes Santillana del Mar, eine originalgetreue Kopie von 14000 Jahre alten, 50er-Jahre-Graffity belästigten Höhlenmalereien und der Zauber einer fast-mittelalterlichen Stadt zwischen surrealen Meeresarmen mit der einst längsten Brücke Spaniens.

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Resistance

Auf dem Jakobsweg begegnet man allerlei merkwürdigen Personen: dem allwissenden Erzähler, der ohne Spanischkenntnisse ein Guidebook über den Camino del Norte schreiben will, dem Chemtrailer, der sich bei der ausgewiesenen Trinkwasserstelle fragt, ob die nicht (wie alle anderen Brunnen) vergiftet ist, und Resistánce. Resistánce ist ein Franzose, der natürlich eigentlich nicht Resistance heißt, aber niemandem seinen Namen verrät. In seinem Pilgerausweis sind die entsprechenden Felder leer (was regelmäßig zu Problemen mit den Herbergen führt). Auf dem Weg nach Santander verrät Resistánce mir ein Geheimnis: “Hinter Boo de Pilegalos gibt es eine Brücke, die direkt über den Rio Pas führt – da spart man sich einen 8 Kilometer langen Umweg über Landstraßen!”, weiß er. Das Problem an der Sache: es ist eine Eisenbahnbrücke, und eigentlich für Fußgänger gesperrt. “Aber das macht nichts, da ist ein breiter Eisenweg daneben”, meint Resistánce und geht dann eine vermeintliche Abkürzung nach Santander (woraufhin ich ihn bisher nicht wiedersah). Nachdem ich in Santander einen entspannten Nachmittag verbrachte, ziellos durch die Gassen schlenderte und in den Genuss von abwechslungsreicher, internationaler und biologischer Küche kam (etwas, wonach man sich nach einigen Tagen Salat und Patatas Bravas sehr sehnt) machte ich mich auf den (unspektakulären) Weg nach Boo de Pielagos. Und tatsächlich, da, wo der eigentliche Jakobsweg nach links weiter geht, führt eine schmale Piste zur Eisenbahnbrücke, direkt über den Rio Pas nach Miengo. Natürlich ging ich nicht den verbotenen Pfad auf der 100 Meter langen, höchst gefährlichen Brücke entlang. Wie es der Zufall wollte, kam ich trotzdem noch am frühen Nachmittag in Miengo an.*
Da es von Miengo bis nach Santilla del Mar trotzdem noch 20 Kilometer sind, bin ich noch ein bisschen rebellischer und schlafe in der Hängematte, irgendwo in einem Heckenbegrenzten Waldstück in der Nähe des Strand,  neben kuhglockenläuten und unter Laubkronenumrahmtem Sternenhimmel. Während mein in der Stranddusche  gewaschenes Wandershirt auf Salvador dem Wanderstab trocknet, verstehe ich ein bisschen, was Resistánce meint, wenn er vom “echten” Weg redet: Jenseits reservierter Unterkünfte und klar markierter Straßen kommt man dem Gefühl des einsamen, Außenseiter-Pilgers einstiger Tage vielleicht ein bisschen näher. Nur eben mit Stranddusche.
(Und dann komme ich nach Santilla del Mar, was zwar sehr hübsch ist, aber mit seinen Touristenmassen das ganz schöne Gegenteil…)

*Und das geschah so: Just, nachdem ich zum offiziellen Jakobsweg zurückgekehrt war und mich des letzten Stückes Pfad entlang des Flusses freute, bevor es zur Landstraße ginge, tauchte Juan Milagro auf, ein breites Grinsen und einen Sack auf dem Rücken tragend. Ob ich rüber wolle, fragte er und ich bejahte. Er warf den Sack von seiner Schuiter und entpackte ein zwei-Personen-großes, faltbares Kanu. “Gute DDR-Qualität!”, sagte Juan Milagro während er das Gestänge zusammensteckte. Juan Milagro war 1981 aus ökonomischen Gründen aus Kuba nach Halle in das sozialistische Bruderland geflohen, wo er bald eine Stelle im ersten staatlichen Kanu-Verleih des Ostblocks an der Südschlaufe der Saale fand. Da man sich jedoch keine Lagerhalle für die wertvollen Sportboote leisten konnte, entwickelte Juan zusammen mit einem ostdeutschen Team ein zusammenfaltbares Kanu, das sie in Säcken zusammenpacken und zum lagern hoch in den Bäumen aufhängen konnten. “Nach der Wende wurde das natürlich abgebaut”, erzählt Juan schulterzuckend, während er mich gekonnt über die Stromschnellen des Rio Pas rudert. Als Andenken hat er dieses erste Exemplar mitgenommen und nutzt es bis heute. Am anderen Ufer springe ich an Land, ziehe meinen Rucksack hoch und will gerade in der Tasche nach ein paar Münzen für meinen Fährmann kramen, da ist Juan Milagro bereits wieder in der Mitte des Flusses. Mein “Dankeschön” geht unter im ohrenbetäubenden Rattern des Zuges, der gerade über die neben mir liegende Zugbrücke fährt. Genau so und nicht anders bin ich über den Rio Pas nach Miengo gekommen.

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Don Utopia

 

“In der Universität des Lebens habe ich die Werte der Humanität gelernt,” erzählt Don Utopia, “nicht im Priesterseminar.” Mit zwei Freunden im Jeep reiste er in jungen Jahren von Italien quer durch Afrika, setzte über nach Mittelamerika und fuhr von dort bis nach Feuerland. “Als mein Sabbat-Jahr zu Ende war, waren 26 Monate vergangen”, er hatte mit Schäfern und Minenarbeitern gelebt, war in 4000 Meter Höhe 800 Kilometer wandern gewesen und kam in seinen Heimatort Güemez zurück, um eine kleine Utopie zu gründen: Das “Refugium des perfekten Opas”, im Haus der Eltern, das morgens im Sonnenaufgangs-Licht auf ankommende Pilger blickt. Heute zumindest. Der erste Pilger erreichte das einst sozio-kulturelle Projekt vor 17 Jahren – ein Galizier, der vor Norwegen schiffbrüchig geworden war. Ohne Geld und Papiere war es nicht so leicht, zurück nach Hause zu fliegen. Also lief er. Als er an Don Utopias Tür klopfte, bekam er eine Matratze, warmes Essen und eine (bitter nötige) Dusche. Inzwischen ist das Refugium auf dem Gemeinschaftsgrund hinter dem Elternhaus auf 80 Betten gewachsen, umsorgt und gepflegt von Freiwilligen. “Letzte Woche waren täglich über 100 Pilger dar”, erzählt eine Freiwillige. Abgelehnt wurde in der eigentlich vollen Herberge keiner.
Wir essen gemeinsam, im Garten machen Leute Yoga, wir sprechen über die Entwicklung des Camino und die Geschichte des Refugiums. Woher der Name komme? “Aus Respekt vor unseren Großeltern, die soviel getan haben, um uns weiterzubringen”. Don Utopia ist selbst weit über 60, auch er tut viel um uns weiterzubringen. Vor einer Weile verlieh König Juan Carlos II ihm das goldene Verdienstabzeichen und machte ihn zum Don. “Das war so ein Scherz, den sie mir gespielt haben”, wiegelt Utopia ab, “das ist doch ein Gemeinschaftsprojekt”. Jeder gibt, so viel er kann und mag, es wird nichts erwartet.

Wer in Güemez war, geht den Jakobsweg ein bisschen verändert weiter. Schaut nicht mehr nur kilometerzählend auf die gelben Pfeile nach Santiago sondern achtet auf die unsichtbaren Hinweise des “Camino Universidad de la Vida”: Ein Applaus für die Freiwilligen. Ein bereitwillig verschenktes (obgleich selbst benötigtes) Blasenpflaster. Ein Tanzen im Regen beim lokalen Straßenfest. Ein Dank an die guten Taten unserer Eltern und Großeltern. Eine Wiedersehensfreude. Ein leicht vergehender, weil geteilter Weg bis Santander. Eine kleine Utopie, mitten in Kantabrien.